Wir kamen dem Everest immer näher.
Der Aufstieg hart und steinig über das ganze Geröll.
Unser Weg führte nach Nordosten, entlang der Seitenmoräne des Khumbugletschers.
Wir trotteten einer großen Yakkarawane hinterher, die Material zum Everest-Basislager brachte, wo die Besteigungssaison in vollem Gange war.
Das gemütliche Yaktempo nahmen wir gerne an und nicht zuletzt deshalb fühlte ich mich trotz der Kurzatmigkeit eigentlich gut. Ich konnte die mit der Sonne steigende Temperatur genießen und das sich ständig verändernde Panorama, als die ebenmäßige Pyramide des Pumori vor uns auftauchte.
Alex machte mich auf ein Feld von Mani-Steinhaufen auf dem Hang links über uns aufmerksam.
„Weißt du, was das ist?" fragte ich ihn.
„Ja, komm mit"
Er zog das Tempo an, als er den braunen Rollsteinhang hochging, ich folgte ihm schnaufend.
An dem Ziel, das er angesteuert hatte, waren sehr viele Manis, das sind hüfthohe Steinhaufen, die im Buddhismus eine wichtige Bedeutung haben.
In die Steine waren Gebetsschriften eingemeißelt, die jedes Mal, wenn der Mani im Uhrzeigersinn umrundet wird, in den Himmel getragen werden sollen.
Auch große Findlinge waren mit diesen Gebetszeichen bemalt. Aber auch gelehmte, nicht ganz mannhohe Steingebilde waren darunter, die mich an Gedenkschreine oder sogar Grabsteine erinnerten. Und ich war mit meiner Vermutung nah an der Wahrheit.
Alex erklärte mir:„Das hier ist die Stelle für die Menschen, die am Everest verunglückt sind. Die meisten, dort oben verstorbenen Bergsteiger und Sherpas haben hier ihren Mani zum Gedenken."
So viele Tote dachte ich mir, in meinen Gedanken versunken.
Wir sahen uns getrennt zwischen den Manis um.
Vor manchen Gedenksteinen, an denen wohl an einen berühmten Bergsteiger erinnert wurde, ließen sich Trekker fotografieren. Was ich eigentlich schreck fand.
Ich las einigermaßen berührt diejenigen Aufschriften auf Blechtafeln, deren Sprache ich verstand also deutsch oder englisch.
„Gehen wir weiter?" fragte ich, als ich genug gesehen hatte.
Alex reagierte jedoch nicht.
Interessiert aber auch zunehmend nervöser ging er zwischen den geschlichteten Steinhaufen umher und schaute sich jede Tafel genau an.
Ich setzte mich auf einen Stein und beobachtete ihn.
Ich war irritiert, wie er da so planlos umher ging, aber dann schien er gefunden zu haben, was er gesucht hatte.
Vor einem nicht ganz schulterhohen Schrein setzt er sich auf den Boden. Wie alle Manis hier, hatte dieser eine sehr unregelmäßige Form und vom Wind zerfetzte Gebetsfahnen waren darum herum gewickelt.
Er schien schon einige Jahre hier zu stehen und deshalb hatte das raue Wetter auch seine Spuren hinterlassen.
Ich ging zu Alex hin und setzte mich neben ihn.
An dem Mani war eine goldene Gedanktafel angebracht, der das Wetter und die Zeit schon sehr zugesetzt hatte. Als ich die deutschsprachige Inschrift las, lief es mir kalt den Rücken runter.
Ihr Werder auffahren mit Flügel wie ein Adler, ihr werdet laufen und nicht müde werden.
Manche Menschen sind nie lebendig. Und die, die es sind, sterben nie.
Niemand, den man liebt, ist jemals tot.
Friedrich Gruber 1970 – 2000
Maria Gruber 1972 - 2000
Mir fiel da die E-Mail Adresse ein, mit der Alex mit mir vor der Reisen den Kontakt gehalten hatte, bzw sein nachname was er in der E-Mail auch verwendet hatte.
alex.gruber96@gmx.at
„Das sind deine Eltern oder? " sagte ich bedauernt.
„Ich habe mich ihnen noch nie so nahe gefühlt als wie jetzt in dem Moment."antwortete er mir oder sich selbst, das wusste ich nicht so genau.
Ich wollte aufstehen, um Alex alleine mit seinen Eltern zu lassen, aber er hielt mich an der Jacke zurück.
Also blieb ich schweigend neben ihm sitzen und schaute ihm zu, wie er nach mehreren Minuten, in denen er zu meditieren schien, zwei Kerzen, die er mitgebracht hatte, anzündete und in ein Windschutzgefäßen auf den handbreiten Sims unter der Tafel stellte.
Er ließ sich Zeit, als er sich sein Werk anschaute.
Dann nickte Alex mir zu und wir gingen nach unten zurück zu dem Weg, der weiter Richtung Everest führte.
Ich hasste auf diesen Schritten den hohen Berg, der Alex so unglücklich gemacht hatte noch mehr als Alex's Gletscherbrille, die es mir unmöglich machte, seine Gedanken und Gefühle zu lesen.
Wir gingen weiter durch diese braune Gesteinslandschaft zwischen den hohen Bergen, die mir plötzlich zuwider waren.
Wir waren zu sehr auf das Atmen konzentriert, als dass wir reden konnten. Aber als wir rasteten und den Snack, den wir uns aus Dughla mitgenommen hatten zu Mittag aßen sagte Alex zu mir:„Mein Opa ist im Jahr 2001 nach Nepal geflogen und hat den Schrein aufgebaut. Er hat einen pensionierten Zimmermann überredet, ihm zu helfen und zu zweit haben sie es hier her geschafft".
Alex lachte, der Gedanke an seinen Großvater in Nepal war für ihn wohl schwer vorstellbar.
„Opa hat mir in den Tagen, in denen ich zu ihm geflüchtet bin, bildreich von ihrer Tour erzählt"
„Dein Opa muss wirklich ein großartiger Mann sein!" sagte ich zu ihm.
„Oh ja, er ist großartig"
„Lucas! ich habe nie wirklich daran geglaubt, dass ich es jemals hier her schaffe und jetzt sitzen wir hier und reden. Ich bin froh, dass wir uns gefunden haben und das du mein Reisebegleiter wurdest."
Ich war stolz, dass Alex das sagte und wollte irgend etwas Bedeutungsvolles antworten, aber Alex redete schon weiter: „Falls mir hier etwas passiert, musst du mir auch einen Mani aufbauen. "
„Ja, klar werde ich machen! Aber ich werde schon auf dich aufpassen. Mein lieber Alex. "
„Daran zweifle ich nicht. Aber du musst mir hoch und heilig versprechen, dass du das tust, falls mir doch etwas zustößt. "
Mir wurde nach dieser nachdrücklichen Bitte mulmig:„Alex, du..."
„Versprich es mir einfach!"
„Okay. Ich verspreche es dir. Aber..."
„Danke. Komm, gehen wir weiter. Ich glaube, es ist nicht mehr so weit."
Es war dann doch noch eine lange Wegstrecke mit zermürbenden Auf- und Abstiegen, bis wir unser nächstes Ziel erreicht hatten, aber Alex hatte es geschafft, die Weiterführung des Gesprächs zu unterdrücken.
Es dauerte noch gute drei Stunden, bis wir das skurrile Gorak Shep erreicht hatten.
Skurril, weil diese kleine Lodgesiedlung hier irgendwie gar nicht hin passte. Mitten in der wilden Welt aus Gletscherzungen, Geröllfeldern und versteinerten Landschaften standen eine Hand voll typischer steinerne Sherpa-Häusern mit ihren blauen Dächern.
Hier, am hintersten Winkel der Erde gab es auf 5180 Metern Höhe sogar ein Internetcafé.
Es war wirklich seltsam.
Ich wusste, dass es von hier aus gerade einmal fünf Kilometer Luftlinie zum höchsten Punkt der Welt waren (wenn man den Höhenunterschied einmal außer acht lässt), aber der Everest war hinter seiner eigenen ausladenden Westschulter und dem Nuptse, fast ganz verdeckt.
Aber direkt im Norden an die Siedlung angrenzend, war ein unscheinbarer brauner Hügel, der unser Ziel für den nächsten Tag war: Der Kala Patthar, ein Aussichtspunkt, auf den man die beste Sicht überhaupt von der nepalesischen Seite auf den Mount Everest hat.
Ich konnte es mir an diesem Tag nicht verkneifen, im Internetcafé die 150 Rupien zu investieren, um meinen Eltern eine E-Mail zu senden und ihnen zu schreiben, wo ich wirklich bin.
Ich hätte ihre Gesichter gerne gesehen, als sie die Mail öffneten.
Mir tat es weh, dass Alex niemanden hatte, dem er schreiben konnte bzw wollte.
Wenn ich die Trekker um uns herum beobachtete, hatten Alex und ich wirklich Glück.
Viele hatten mit der Höhe zu kämpfen und wirkten ernsthaft krank. Obwohl wir Beiden im Nachhinein gesehen die Höhenanpassung sträflich vernachlässigt hatten, ging es uns relativ gut und wir hatten sogar einen ordentlichen Appetit.
Andere waren erkältet, hatten Durchfall oder waren einfach entkräftet.
Dazwischen hielten sich auch Bergsteiger auf, die zwischen strapaziösen mehrtägigen Aklimatisierungsgängen auf über 7000 Metern und wieder zurück zum 5400 Meter hohen Basislager, das etwa 3 Stunden von hier entfernt lag, in der dickeren Luft Erholung suchten.
Ich bewunderte diese Leute, aber als ich eine solche Bemerkung machte, reagierte Alex verächtlich: „Das, was am Everest abgeht, ist mittlerweile Massentourismus. Jeder, der 50.000 Euro zuviel oder so hat, kann sich von den Sherpas praktisch hochtragen lassen, um zu Hause anzugeben, was für ein Held er doch ist."
Ich antwortete nicht, weil ich mich noch nicht mit dem Thema befasst hatte.
Außerdem glaubte ich nicht, dass es so einfach war, wie Alex es beschrieb, wenn ich bedachte, wie schwach ich mich auf gerade einmal 5000 Metern Höhe fühlte.
In der Nacht war an Schlaf jedoch gar nicht zu denken. Ich schlief zwar alleine in meinem Schlafsack, aber mit zwanzig anderen Trekkern in einem Matratzenlager. Alex übernachtete in seinem Schlafsack.
Nach dem Abendessen hatte er mit einem Augenzwinkern zugegeben, dass die Aussage, sein Schlafsack würde ihn nicht wärmen, eine glatte Lüge war.
Ich hatte am Abend höhenbedingte Kopfschmerzen, ein einziger Schnarcher mit gutem Schlaf sägte im Lummerland den Wald ab, andere stimmten mit Erkältungsgeräuschen in den Everest-Chor ein und alle paar Minuten stand jemand auf, um sich die Blase zu entleeren.
Statt eines erholsamen Schlafes verbrachte ich die Nacht deshalb damit, darauf zu warten, endlich aufstehen zu können.
Um halb fünf waren wir dann zwei der Ersten, die sich aus den Schlafsäcken quälten. Wir mummelten uns warm ein und im Schein der Stirnlampen verließen wir die Lodge, um beim Sonnenaufgang auf dem Kala Patthar zu stehen.
Wir gingen gerade über den 100 Meter breiten Sandstreifen, der zwischen Gorak Shep und dem Fuß des Kala Patthar lag, als Alex sagte: „Ich muss noch mal zurück in die Lodge. Hab was vergessen!"
Ich sagte nichts und wartete genervt in der bitteren Kälte, bis er wieder zurück kam.
Zehn Minuten später konnten wir unseren Marsch endlich fortsetzen. Es war zwar noch Nacht, aber dank der Stirnlampen und einem hellen Mond, konnten wir den einfachen Weg nach oben gut verfolgen. Mit jedem Schritt, den wir an Höhe gewannen, trat der Everest im Mondlicht und der einsetzenden Dämmerung weiter hinter seiner Deckung durch die niedrigeren Vorberge Imposant hervor.
Obwohl der Weg einfach war, war der Aufstieg eine Schinderei.
Ich versuchte mit Alex, der eine bessere Ausdauer als ich hatte, mitzuhalten und das rächte sich. Ich fiel zurück, mein Herz raste und meine Atmung wurde zu einem Hecheln.
Aber wenn ich pausierte, konnte ich mich schnell wieder regenerieren. Ich versuchte mein eigenes Tempo zu finden, doch die Pausen wurden immer länger und die Überwindung, weiter zu gehen, kostete immer mehr Kraft.
Der Hügel, der von Gorak Shep aus eher weniger beeindruckend aussah, zermürbte mich jetzt jedoch.
Unter einer Kuppe dachte ich, es gleich geschafft zu haben, aber als ich dann auf dem vermeintlichen Gipfel ankam, ging der Hang mit den vereinzelten Scheeflecken gnadenlos weiter nach oben.
Ich fand dan aber endlich meinen eigenen Rhythmus, Dreißig Schritte gehen, zehn Atemzüge Pause.
So konnte ich mit meinen Kräften haushalten und kam langsam aber sicher weiter nach oben. Alex drehte sich zu mir um und ich zeigte mit dem Daumen nach oben das es schon geht, ich würde es schaffen.
Im Osten war ein traumhaftes Morgenrot zu sehen, als ich endlich den mit Gebetsfahnen geschmückten Gipfel des Kala Patthar auf etwa 5600 Metern Höhe erreichte.
Alex, der schon auf mich gewartet hatte, nahm mich herzend in die Arme und gab mir einen Kuss auf die Wange. Wir gehörten an diesem Tag zu den Ersten, die diesen langgezogenen Vorhügel des Pumori bestiegen hatten, aber jetzt sahen wir, dass der Weg nach oben sich mit Wanderern füllte, die sich den Hügel hinauf quälten, während wir sitzend die nahe Gipfelpyramide des Mount Everest bewunderten.
Etwa hundert Meter unter uns sah ich, wie die bunte Zeltstadt, die das Basislager der Everest-Bergsteiger war, zum Leben erwachte.
Direkt daran grenzte der wüst zerfurchte Khumbu-Icefall, der eine gefährliche Barriere gleich am Anfang der wichtigsten Besteigungsroute darstellt. Alex folgte meinen Blick nach unten.
„Fast alle da unten werden auf einer Route hinaufgeführt, die von unten bis oben mit Fixseilen präpariert ist, damit der Eindruck entsteht, der Mount Everest ist ein großer Klettergarten." sagte er zu mir.
Er wies auf einen markanten Vorsprung kurz unterhalb des Gipfels auf der Südostseite:„Dort kommt noch einmal eine schwierige, mit Seilen und Strickleitern gesicherte Kletterstelle. Stell dir vor, dass es im Jahr nur zwei oder drei Tage im Mai gibt, an denen die starken Winde, die dort oben normalerweise herrschen, abflachen. Und an diesen Tagen wollen alle auf den Gipfel. Und viele habe dort eigentlich nichts zu suchen und schaffen es nicht, diese Stelle zu klettern. Deshalb staut es sich dann dort, wenn am gleichen Seil dutzende nach oben wollen und auch die, die auf dem Gipfel waren, dort wieder hinunter wollen . Deshalb sind sogar schon Leute einfach beim Warten erfroren. "
Ich musste an den Gedenkschrein am Vortag denken: „Und deine Eltern? Mussten sie dort auch warten?"
„Nein" In Alex Stimme klang Stolz mit, als er weiter redete.
„Fast alle Bergsteiger, die von der nepalesischen Seite zum Everestgipfel gehen, machen es über die gleiche Route, die sehr einfach ist. Aber meine Eltern wollten es über einen schwierigen und einsamen Weg machen."
Er wies auf den Westgrat, der direkt in unsere Richtung zeigte, bis er hinter der Westschulter verschwand.
„Sie waren in einer kleinen Gruppe unterwegs. An ihrem geplanten Gipfeltag sind sie sogar nur als Zweierseilschaft vom obersten Hochlager aufgebrochen. "
„Und dann?" hakte fragte ich vorsichtig nach.
„Sie sind wohl gut voran gekommen. Aber als sie schon über 8400 Meter hoch waren, wurden sie von heranziehenden Wolken überrascht. Die Teammitglieder, die den Aufstieg mit dem Fernglas beobachtet hatten, verloren sie aus den Augen und meine Eltern kamen einfach nicht mehr zurück. "
Alex Schweigen sprach nach diesen Worten Bände.
„Aber deine Eltern waren doch bestimmt gute Bergsteiger, wenn sie diese Route probierten oder? " sagte ich.
„Ja, mein Dad reiste bevor ich geboren wurde, viel durch die Welt zum Klettern und Bergsteigen. In den Augen meines Stiefvaters war sein Bruder ein verantwortungsloser Vagabund, doch in Wirklichkeit führte er auch ein seriöses Leben in einer Gemeinschaftspraxis als Neurologe. Aber wenn man seine Touren in diesen Jahren bedenkt, wurde er dort wohl nicht so oft gesehen. "
Alex lachte vor sich hin. Er schwebte jetzt tief in Gedanken, als er weiter redete
„Meine Mutter war zwar Österreicherin aber kennengelernt hat mein Vater sie 1993 in Peru in den Anden.
Sie war bei einer Expedition zum Alpamayo als Bergführerin dabei. Da hat es zwischen ihnen gefunkt. 1994 erlebten sie gemeinsam ein bewegtes Jahr, in dem sie gemeinsam Indien, Tibet, Bhutan und Nepal bereisten und dort natürlich auch wieder Gipfel bestiegen. 1995 gab's dann die Hochzeit und meine Mutter zog zu meinem Vater nach Wien. Und ein Jahr später kam dann ich. Da nahm Moms und Dads Leben eine Wendung ins Seriöse.
Papa konzentrierte sich auf seinen Job als Arzt und Mama arbeitete im Tourismus als Bergführerin in den Alpen und sie hielt auch Vorträge über ihre Reisen, die angeblich gut besucht waren."
Alex schaute zu dem schwarz-weißen Klotz, der der höchste Berg der Welt war und sich auf seiner Gletscherbrille spiegelte.
„Opa und Oma waren dagegen, als sie sich den Traum vom Everest erfüllen wollten. Manchmals bin ich meinen Eltern auch böse, dass sie es gemacht haben und mich alleine gelassen haben. Aber ich glaube, ich verstehe sie. Manche Menschen sind nie lebendig. Und die, die es sind, sterben nie. " zitierte er ein Teil vo der Aufschrift auf dem Gedenkstein seiner Eltern.
„Und du? Hast du jemals gelebt?" fragte ich ihn.
Wir trotteten einer großen Yakkarawane hinterher, die Material zum Everest-Basislager brachte, wo die Besteigungssaison in vollem Gange war.
Das gemütliche Yaktempo nahmen wir gerne an und nicht zuletzt deshalb fühlte ich mich trotz der Kurzatmigkeit eigentlich gut. Ich konnte die mit der Sonne steigende Temperatur genießen und das sich ständig verändernde Panorama, als die ebenmäßige Pyramide des Pumori vor uns auftauchte.
Alex machte mich auf ein Feld von Mani-Steinhaufen auf dem Hang links über uns aufmerksam.
„Weißt du, was das ist?" fragte ich ihn.
„Ja, komm mit"
Er zog das Tempo an, als er den braunen Rollsteinhang hochging, ich folgte ihm schnaufend.
An dem Ziel, das er angesteuert hatte, waren sehr viele Manis, das sind hüfthohe Steinhaufen, die im Buddhismus eine wichtige Bedeutung haben.
In die Steine waren Gebetsschriften eingemeißelt, die jedes Mal, wenn der Mani im Uhrzeigersinn umrundet wird, in den Himmel getragen werden sollen.
Auch große Findlinge waren mit diesen Gebetszeichen bemalt. Aber auch gelehmte, nicht ganz mannhohe Steingebilde waren darunter, die mich an Gedenkschreine oder sogar Grabsteine erinnerten. Und ich war mit meiner Vermutung nah an der Wahrheit.
Alex erklärte mir:„Das hier ist die Stelle für die Menschen, die am Everest verunglückt sind. Die meisten, dort oben verstorbenen Bergsteiger und Sherpas haben hier ihren Mani zum Gedenken."
So viele Tote dachte ich mir, in meinen Gedanken versunken.
Wir sahen uns getrennt zwischen den Manis um.
Vor manchen Gedenksteinen, an denen wohl an einen berühmten Bergsteiger erinnert wurde, ließen sich Trekker fotografieren. Was ich eigentlich schreck fand.
Ich las einigermaßen berührt diejenigen Aufschriften auf Blechtafeln, deren Sprache ich verstand also deutsch oder englisch.
„Gehen wir weiter?" fragte ich, als ich genug gesehen hatte.
Alex reagierte jedoch nicht.
Interessiert aber auch zunehmend nervöser ging er zwischen den geschlichteten Steinhaufen umher und schaute sich jede Tafel genau an.
Ich setzte mich auf einen Stein und beobachtete ihn.
Ich war irritiert, wie er da so planlos umher ging, aber dann schien er gefunden zu haben, was er gesucht hatte.
Vor einem nicht ganz schulterhohen Schrein setzt er sich auf den Boden. Wie alle Manis hier, hatte dieser eine sehr unregelmäßige Form und vom Wind zerfetzte Gebetsfahnen waren darum herum gewickelt.
Er schien schon einige Jahre hier zu stehen und deshalb hatte das raue Wetter auch seine Spuren hinterlassen.
Ich ging zu Alex hin und setzte mich neben ihn.
An dem Mani war eine goldene Gedanktafel angebracht, der das Wetter und die Zeit schon sehr zugesetzt hatte. Als ich die deutschsprachige Inschrift las, lief es mir kalt den Rücken runter.
Ihr Werder auffahren mit Flügel wie ein Adler, ihr werdet laufen und nicht müde werden.
Manche Menschen sind nie lebendig. Und die, die es sind, sterben nie.
Niemand, den man liebt, ist jemals tot.
Friedrich Gruber 1970 – 2000
Maria Gruber 1972 - 2000
Mir fiel da die E-Mail Adresse ein, mit der Alex mit mir vor der Reisen den Kontakt gehalten hatte, bzw sein nachname was er in der E-Mail auch verwendet hatte.
alex.gruber96@gmx.at
„Das sind deine Eltern oder? " sagte ich bedauernt.
„Ich habe mich ihnen noch nie so nahe gefühlt als wie jetzt in dem Moment."antwortete er mir oder sich selbst, das wusste ich nicht so genau.
Ich wollte aufstehen, um Alex alleine mit seinen Eltern zu lassen, aber er hielt mich an der Jacke zurück.
Also blieb ich schweigend neben ihm sitzen und schaute ihm zu, wie er nach mehreren Minuten, in denen er zu meditieren schien, zwei Kerzen, die er mitgebracht hatte, anzündete und in ein Windschutzgefäßen auf den handbreiten Sims unter der Tafel stellte.
Er ließ sich Zeit, als er sich sein Werk anschaute.
Dann nickte Alex mir zu und wir gingen nach unten zurück zu dem Weg, der weiter Richtung Everest führte.
Ich hasste auf diesen Schritten den hohen Berg, der Alex so unglücklich gemacht hatte noch mehr als Alex's Gletscherbrille, die es mir unmöglich machte, seine Gedanken und Gefühle zu lesen.
Wir gingen weiter durch diese braune Gesteinslandschaft zwischen den hohen Bergen, die mir plötzlich zuwider waren.
Wir waren zu sehr auf das Atmen konzentriert, als dass wir reden konnten. Aber als wir rasteten und den Snack, den wir uns aus Dughla mitgenommen hatten zu Mittag aßen sagte Alex zu mir:„Mein Opa ist im Jahr 2001 nach Nepal geflogen und hat den Schrein aufgebaut. Er hat einen pensionierten Zimmermann überredet, ihm zu helfen und zu zweit haben sie es hier her geschafft".
Alex lachte, der Gedanke an seinen Großvater in Nepal war für ihn wohl schwer vorstellbar.
„Opa hat mir in den Tagen, in denen ich zu ihm geflüchtet bin, bildreich von ihrer Tour erzählt"
„Dein Opa muss wirklich ein großartiger Mann sein!" sagte ich zu ihm.
„Oh ja, er ist großartig"
„Lucas! ich habe nie wirklich daran geglaubt, dass ich es jemals hier her schaffe und jetzt sitzen wir hier und reden. Ich bin froh, dass wir uns gefunden haben und das du mein Reisebegleiter wurdest."
Ich war stolz, dass Alex das sagte und wollte irgend etwas Bedeutungsvolles antworten, aber Alex redete schon weiter: „Falls mir hier etwas passiert, musst du mir auch einen Mani aufbauen. "
„Ja, klar werde ich machen! Aber ich werde schon auf dich aufpassen. Mein lieber Alex. "
„Daran zweifle ich nicht. Aber du musst mir hoch und heilig versprechen, dass du das tust, falls mir doch etwas zustößt. "
Mir wurde nach dieser nachdrücklichen Bitte mulmig:„Alex, du..."
„Versprich es mir einfach!"
„Okay. Ich verspreche es dir. Aber..."
„Danke. Komm, gehen wir weiter. Ich glaube, es ist nicht mehr so weit."
Es war dann doch noch eine lange Wegstrecke mit zermürbenden Auf- und Abstiegen, bis wir unser nächstes Ziel erreicht hatten, aber Alex hatte es geschafft, die Weiterführung des Gesprächs zu unterdrücken.
Es dauerte noch gute drei Stunden, bis wir das skurrile Gorak Shep erreicht hatten.
Skurril, weil diese kleine Lodgesiedlung hier irgendwie gar nicht hin passte. Mitten in der wilden Welt aus Gletscherzungen, Geröllfeldern und versteinerten Landschaften standen eine Hand voll typischer steinerne Sherpa-Häusern mit ihren blauen Dächern.
Hier, am hintersten Winkel der Erde gab es auf 5180 Metern Höhe sogar ein Internetcafé.
Es war wirklich seltsam.
Ich wusste, dass es von hier aus gerade einmal fünf Kilometer Luftlinie zum höchsten Punkt der Welt waren (wenn man den Höhenunterschied einmal außer acht lässt), aber der Everest war hinter seiner eigenen ausladenden Westschulter und dem Nuptse, fast ganz verdeckt.
Aber direkt im Norden an die Siedlung angrenzend, war ein unscheinbarer brauner Hügel, der unser Ziel für den nächsten Tag war: Der Kala Patthar, ein Aussichtspunkt, auf den man die beste Sicht überhaupt von der nepalesischen Seite auf den Mount Everest hat.
Ich konnte es mir an diesem Tag nicht verkneifen, im Internetcafé die 150 Rupien zu investieren, um meinen Eltern eine E-Mail zu senden und ihnen zu schreiben, wo ich wirklich bin.
Ich hätte ihre Gesichter gerne gesehen, als sie die Mail öffneten.
Mir tat es weh, dass Alex niemanden hatte, dem er schreiben konnte bzw wollte.
Wenn ich die Trekker um uns herum beobachtete, hatten Alex und ich wirklich Glück.
Viele hatten mit der Höhe zu kämpfen und wirkten ernsthaft krank. Obwohl wir Beiden im Nachhinein gesehen die Höhenanpassung sträflich vernachlässigt hatten, ging es uns relativ gut und wir hatten sogar einen ordentlichen Appetit.
Andere waren erkältet, hatten Durchfall oder waren einfach entkräftet.
Dazwischen hielten sich auch Bergsteiger auf, die zwischen strapaziösen mehrtägigen Aklimatisierungsgängen auf über 7000 Metern und wieder zurück zum 5400 Meter hohen Basislager, das etwa 3 Stunden von hier entfernt lag, in der dickeren Luft Erholung suchten.
Ich bewunderte diese Leute, aber als ich eine solche Bemerkung machte, reagierte Alex verächtlich: „Das, was am Everest abgeht, ist mittlerweile Massentourismus. Jeder, der 50.000 Euro zuviel oder so hat, kann sich von den Sherpas praktisch hochtragen lassen, um zu Hause anzugeben, was für ein Held er doch ist."
Ich antwortete nicht, weil ich mich noch nicht mit dem Thema befasst hatte.
Außerdem glaubte ich nicht, dass es so einfach war, wie Alex es beschrieb, wenn ich bedachte, wie schwach ich mich auf gerade einmal 5000 Metern Höhe fühlte.
In der Nacht war an Schlaf jedoch gar nicht zu denken. Ich schlief zwar alleine in meinem Schlafsack, aber mit zwanzig anderen Trekkern in einem Matratzenlager. Alex übernachtete in seinem Schlafsack.
Nach dem Abendessen hatte er mit einem Augenzwinkern zugegeben, dass die Aussage, sein Schlafsack würde ihn nicht wärmen, eine glatte Lüge war.
Ich hatte am Abend höhenbedingte Kopfschmerzen, ein einziger Schnarcher mit gutem Schlaf sägte im Lummerland den Wald ab, andere stimmten mit Erkältungsgeräuschen in den Everest-Chor ein und alle paar Minuten stand jemand auf, um sich die Blase zu entleeren.
Statt eines erholsamen Schlafes verbrachte ich die Nacht deshalb damit, darauf zu warten, endlich aufstehen zu können.
Um halb fünf waren wir dann zwei der Ersten, die sich aus den Schlafsäcken quälten. Wir mummelten uns warm ein und im Schein der Stirnlampen verließen wir die Lodge, um beim Sonnenaufgang auf dem Kala Patthar zu stehen.
Wir gingen gerade über den 100 Meter breiten Sandstreifen, der zwischen Gorak Shep und dem Fuß des Kala Patthar lag, als Alex sagte: „Ich muss noch mal zurück in die Lodge. Hab was vergessen!"
Ich sagte nichts und wartete genervt in der bitteren Kälte, bis er wieder zurück kam.
Zehn Minuten später konnten wir unseren Marsch endlich fortsetzen. Es war zwar noch Nacht, aber dank der Stirnlampen und einem hellen Mond, konnten wir den einfachen Weg nach oben gut verfolgen. Mit jedem Schritt, den wir an Höhe gewannen, trat der Everest im Mondlicht und der einsetzenden Dämmerung weiter hinter seiner Deckung durch die niedrigeren Vorberge Imposant hervor.
Obwohl der Weg einfach war, war der Aufstieg eine Schinderei.
Ich versuchte mit Alex, der eine bessere Ausdauer als ich hatte, mitzuhalten und das rächte sich. Ich fiel zurück, mein Herz raste und meine Atmung wurde zu einem Hecheln.
Aber wenn ich pausierte, konnte ich mich schnell wieder regenerieren. Ich versuchte mein eigenes Tempo zu finden, doch die Pausen wurden immer länger und die Überwindung, weiter zu gehen, kostete immer mehr Kraft.
Der Hügel, der von Gorak Shep aus eher weniger beeindruckend aussah, zermürbte mich jetzt jedoch.
Unter einer Kuppe dachte ich, es gleich geschafft zu haben, aber als ich dann auf dem vermeintlichen Gipfel ankam, ging der Hang mit den vereinzelten Scheeflecken gnadenlos weiter nach oben.
Ich fand dan aber endlich meinen eigenen Rhythmus, Dreißig Schritte gehen, zehn Atemzüge Pause.
So konnte ich mit meinen Kräften haushalten und kam langsam aber sicher weiter nach oben. Alex drehte sich zu mir um und ich zeigte mit dem Daumen nach oben das es schon geht, ich würde es schaffen.
Im Osten war ein traumhaftes Morgenrot zu sehen, als ich endlich den mit Gebetsfahnen geschmückten Gipfel des Kala Patthar auf etwa 5600 Metern Höhe erreichte.
Alex, der schon auf mich gewartet hatte, nahm mich herzend in die Arme und gab mir einen Kuss auf die Wange. Wir gehörten an diesem Tag zu den Ersten, die diesen langgezogenen Vorhügel des Pumori bestiegen hatten, aber jetzt sahen wir, dass der Weg nach oben sich mit Wanderern füllte, die sich den Hügel hinauf quälten, während wir sitzend die nahe Gipfelpyramide des Mount Everest bewunderten.
Etwa hundert Meter unter uns sah ich, wie die bunte Zeltstadt, die das Basislager der Everest-Bergsteiger war, zum Leben erwachte.
Direkt daran grenzte der wüst zerfurchte Khumbu-Icefall, der eine gefährliche Barriere gleich am Anfang der wichtigsten Besteigungsroute darstellt. Alex folgte meinen Blick nach unten.
„Fast alle da unten werden auf einer Route hinaufgeführt, die von unten bis oben mit Fixseilen präpariert ist, damit der Eindruck entsteht, der Mount Everest ist ein großer Klettergarten." sagte er zu mir.
Er wies auf einen markanten Vorsprung kurz unterhalb des Gipfels auf der Südostseite:„Dort kommt noch einmal eine schwierige, mit Seilen und Strickleitern gesicherte Kletterstelle. Stell dir vor, dass es im Jahr nur zwei oder drei Tage im Mai gibt, an denen die starken Winde, die dort oben normalerweise herrschen, abflachen. Und an diesen Tagen wollen alle auf den Gipfel. Und viele habe dort eigentlich nichts zu suchen und schaffen es nicht, diese Stelle zu klettern. Deshalb staut es sich dann dort, wenn am gleichen Seil dutzende nach oben wollen und auch die, die auf dem Gipfel waren, dort wieder hinunter wollen . Deshalb sind sogar schon Leute einfach beim Warten erfroren. "
Ich musste an den Gedenkschrein am Vortag denken: „Und deine Eltern? Mussten sie dort auch warten?"
„Nein" In Alex Stimme klang Stolz mit, als er weiter redete.
„Fast alle Bergsteiger, die von der nepalesischen Seite zum Everestgipfel gehen, machen es über die gleiche Route, die sehr einfach ist. Aber meine Eltern wollten es über einen schwierigen und einsamen Weg machen."
Er wies auf den Westgrat, der direkt in unsere Richtung zeigte, bis er hinter der Westschulter verschwand.
„Sie waren in einer kleinen Gruppe unterwegs. An ihrem geplanten Gipfeltag sind sie sogar nur als Zweierseilschaft vom obersten Hochlager aufgebrochen. "
„Und dann?" hakte fragte ich vorsichtig nach.
„Sie sind wohl gut voran gekommen. Aber als sie schon über 8400 Meter hoch waren, wurden sie von heranziehenden Wolken überrascht. Die Teammitglieder, die den Aufstieg mit dem Fernglas beobachtet hatten, verloren sie aus den Augen und meine Eltern kamen einfach nicht mehr zurück. "
Alex Schweigen sprach nach diesen Worten Bände.
„Aber deine Eltern waren doch bestimmt gute Bergsteiger, wenn sie diese Route probierten oder? " sagte ich.
„Ja, mein Dad reiste bevor ich geboren wurde, viel durch die Welt zum Klettern und Bergsteigen. In den Augen meines Stiefvaters war sein Bruder ein verantwortungsloser Vagabund, doch in Wirklichkeit führte er auch ein seriöses Leben in einer Gemeinschaftspraxis als Neurologe. Aber wenn man seine Touren in diesen Jahren bedenkt, wurde er dort wohl nicht so oft gesehen. "
Alex lachte vor sich hin. Er schwebte jetzt tief in Gedanken, als er weiter redete
„Meine Mutter war zwar Österreicherin aber kennengelernt hat mein Vater sie 1993 in Peru in den Anden.
Sie war bei einer Expedition zum Alpamayo als Bergführerin dabei. Da hat es zwischen ihnen gefunkt. 1994 erlebten sie gemeinsam ein bewegtes Jahr, in dem sie gemeinsam Indien, Tibet, Bhutan und Nepal bereisten und dort natürlich auch wieder Gipfel bestiegen. 1995 gab's dann die Hochzeit und meine Mutter zog zu meinem Vater nach Wien. Und ein Jahr später kam dann ich. Da nahm Moms und Dads Leben eine Wendung ins Seriöse.
Papa konzentrierte sich auf seinen Job als Arzt und Mama arbeitete im Tourismus als Bergführerin in den Alpen und sie hielt auch Vorträge über ihre Reisen, die angeblich gut besucht waren."
Alex schaute zu dem schwarz-weißen Klotz, der der höchste Berg der Welt war und sich auf seiner Gletscherbrille spiegelte.
„Opa und Oma waren dagegen, als sie sich den Traum vom Everest erfüllen wollten. Manchmals bin ich meinen Eltern auch böse, dass sie es gemacht haben und mich alleine gelassen haben. Aber ich glaube, ich verstehe sie. Manche Menschen sind nie lebendig. Und die, die es sind, sterben nie. " zitierte er ein Teil vo der Aufschrift auf dem Gedenkstein seiner Eltern.
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