In dieser zweiten Zusatzgeschichte zu "Video Games" geht es um das Fest der Liebe, um Weihnachtsmärkte, Glühwein, die Feiertage und Nächstenliebe und natürlich wieder einmal um die kitschige Romanze zwischen Leon und Mika. Für die geneigten Leser meiner Werke habe ich noch eine kleine Überraschung versteckt, die euch hoffentlich gefallen wird ;)
Heute ist es kalt. Extrem kalt. Zum Glück bin ich gleich bei Julia.
Ich drücke den eisigen Knopf der Klingel. Nach einer gefühlten Ewigkeit in der Kälte öffnet mir endlich jemand die Tür.
„Komm doch rein, setz dich zu uns und trink erstmal nen Kakao. Karl is nicht mehr lange hier, danach können wir über deine Probleme reden“, grüßt Julia mich. Meine Probleme. Jetzt überkommt mich wieder dieses schwere Gefühl und ich muss schlucken.
Lustlos nippe ich an meinem Kakao, während wir über belanglose Dinge reden. Ob mir Julia wirklich helfen kann? Wie auch immer, ich muss erst mal warten bis Karl weg ist. Nicht, dass ich ihn nicht mag, aber wir kennen uns nicht so gut, und da wäre es mir doch arg unangenehm mich vor ihm seelisch zu entblößen.
Nach gefühlten Stunden ist er endlich auf dem Heimweg.
Ich drück mich fest an Julia, während ich versuche ihr die Sache zu erklären: „Wie du mitbekommen hast, hatte Mika nach den Sommerferien nur sehr selten Zeit. Das letzte Mal habe ich ihn in den Herbstferien gesehen. Entweder war es die Schule, die Familie oder seine Freunde. Manchmal habe ich das Gefühl, er hätte mich vergessen…“ ich kann mich nicht mehr zurückhalten. Unter Tränen erzähle ich weiter, „dabei vermisse ihn so sehr. Ich würde nichts lieber tun als ihn einfach nur im Arm zu halten und nah bei ihm zu sein.“
Nach diesen Worten wird aus den Tränen ein jämmerliches Heulen. Julia legt ihre Arme um mich. „Er wird dich nicht vergessen haben, das glaube ich nicht.“
„Vielleicht will er mich ja vergessen? Seit Anfang November postet er auf Instagram immer Bilder auf denen dieser Junge mit drauf ist. Der sieht gar nicht mal so schlecht aus… Bestimmt läuft da etwas zwischen denen.“
Julia entgegnet ungewohnt sanft: „Er hat mit dir doch einen wunderbaren Menschen. Außerdem ist er viel zu verliebt in dich um dir das antun zu können. Außerdem scheint er zu gut zu sein, um fremdzugehen.“
„Ich weiß es ja selbst, dass ich ihm voll und ganz vertrauen kann, dass er viel zu rein und unschuldig ist um mich zu verletzen, dass seine Liebe ehrlich ist. Selbst wenn er mich nicht mehr lieben würde, könnte er sich nicht trennen, weil er mir nicht wehtun will. Meinst du, ich bin nicht gut genug für ihn? Er ist so lieb, lustig, hilfsbereit, gutmütig, sanft und unschuldig. Beinahe zu naiv für diese Welt. Sein Charakter ist einmalig und ungewöhnlich. Und er sieht unglaublich gut aus, niedlich, sexy und hübsch. Er ist einfach zu perfekt. Deswegen mache ich mir ja Sorgen. Jemand wie er muss so beliebt sein, da kann er jeden haben den er will!“
„Und doch hat er sich für dich entschieden, denn du bist auch toll! Du bist auch lustig, gutherzig, freundlich, hübsch und hast coole Hobbies. Außerdem hast du ja selbst gesagt, dass er aus so vielen Gründen sowas niemals machen würde.“
„Ja. Er könnte das wirklich nie. Danke. Ich weiß es ja, aber ich kann einfach nicht anders, ich schäme mich so sehr, dass ich eifersüchtig bin, obwohl es keinen Grund dafür gibt. Und für die fiesen und unwahrscheinlichen Unterstellungen hasse ich mich selbst.“
Wenn es mir schlecht geht, weil ich ihn vermisse ist es eine Sache, was mir aber letztendlich das Herz bricht ist das Wissen, dass ich ihm mit meiner Eifersucht absolut unrecht tue.
Jetzt scheint Julia böse zu sein: „Du darfst dich nicht hassen. Weder dafür noch für deine Gefühle. Wenn man so richtig verliebt ist, ist man anfangs noch eifersüchtig, das ist absolut normal. Aber gebe diesen bösen, falschen Gedanken nicht nach, sie sind falsch! Und wenn Mika dich doch verletzt, was er niemals tun würde und auch nicht getan hat, dann sorge ich dafür, dass er nie wieder aufstehen kann!“
Jetzt muss ich lachen. „Du bist eine wunderbare Freundin, wenn auch manchmal etwas brutal, aber ich mag dich. Danke für deine lieben Worte. Und danke, dafür, dass du dir mein Geheule anhörst.“
Ich bin zwar immer noch nicht hundertprozentig sicher und glücklich, aber dennoch hat mir das Gespräch sehr geholfen.
Auch wenn es mir ein wenig besser gehen sollte, so war der heutige Tag eine Qual. Die Kälte im Klassenzimmer und das graue Wetter setzten meiner Laune zu. Endlich bin ich zuhause. Gerade, als ich mich auf das Bett fallen lasse klingelt mein Smartphone.
Mika ruft an!
Sofort nehme ich ab: „Leon, ja?“
„Hier… ist…Mika…“, höre ich es schluchzen.
„Was ist los?“, rufe ich entsetzt in das Handy, doch Mika weint nur noch lauter.
Dann, endlich schafft er es dazwischen zu sprechen: „Es…es tut mir so leid… Ich wollte nicht…, dass du so leidest…Ich vermisse dich unglaublich! …Julia hat mir alles geschrieben…Ich… meine Familie…wir hatten einen Austauschschüler aus Schottland da. Er ist hetero und vergeben… außerdem bist du der Einzige für mich! … Ich hätte dir mehr vertrauen sollen… Aber ich hatte Angst, dass du eifersüchtig wirst… mich nicht mehr magst… man kennt ja die ganzen billigen Austauschschüler-Romanzen… Hätte ich dir von ihm verraten… dann wäre es nie so weit gekommen… es tut mir so leid… Bitte verzeih mir!… Aber nur wenn du es auch willst…“
„Schon gut, Mika…“, flenn ich in den Hörer, „Natürlich verzeih ich dir… kannst du mir die bösen und… unwahrscheinlichen Anschuldigungen verzeihen? Ich weiß doch, dass du so etwas nie machen würdest…“
„Ich… verzeih…dir“, schnieft mein geliebter ins Telefon.
„Nächstes mal kommst du direkt vorbei, Schatz. Dann kann ich dich in den Arm nehmen, streicheln und trösten. Ich will nicht, dass du wegen mir traurig bist. Ich bin so scheiße!“
„Hör auf! Du bist nicht scheiße, du bist nur sehr verliebt! Und das ist irgendwie süß! Toxisch, aber auch süß! Ich würde zu gern liebevoll von dir getröstet werden. Wann kannst du? Egal wann, ich komme!“
Das Gespräch mit Mika hat mich unglaublich glücklich gemacht. Wenn nicht mein schlechtes Gewissen wäre, dann wäre ich jetzt der glücklichste Mensch der Welt! Ich habe am Samstag ein Date auf dem Weihnachtsmarkt mit meinem geliebten Schatz!
Es ist Freitagabend und ich bin schon so aufgeregt! Wenn Mika nur wüsste, was ich mit ihm geplant habe! Dank Julias und Karls Hilfe kann das Wochenende nur grandios werden!
„Hast du schon ein Geschenk für Mika?“ Mit diesen Worten reißt Julia mich aus meinen Gedanken.
„Wer ist denn Mika?“, fragt mich Christian. Ausgerechnet Christian, der Macho. Bei seiner Einstellung braucht der gar nicht wissen, dass ich mit einem Jungen zusammen bin. Und auch sonst möchte ich das noch nicht an die große Glocke hängen.
„Hörst du nie zu? Das ist sein Neffe, das Baby von seinem Bruder. Das hat er doch in der Schule gesagt…“, keift Tobi Christian an. „Das istn Männername? Wie öde. Ich habe auf heiße Sexgeschichten mit Leons Freundin gehofft.“
„Du denkst natürlich wieder nur an Sex. Das ist total widerlich. Wir Mädchen haben viel mehr zu bieten. Charakter und so. Als ob wir nur aus Arsch und Titten bestehen würden!“, mischt sich jetzt auch noch Leonie ein. Der Gedanke bringt mich zum Schmunzeln.
„Das Thema wollt‘ ich jetzt eigentlich nicht lostreten. Hört bitte auf zu streiten“, zetert Julia, „Nächstes Mal komm ich nicht mit, wenn die Klasse trinken geht.“
„Wie schade. Dann bleibt ja nur noch Leon von unserer Gruppe,“ meint Noah, „Sandra kann ja eh nie…“
Und damit hat er auch recht. Wobei er selbst nicht viel häufiger Zeit hat, deswegen bin ich ja meist nur mit Julia unterwegs. Schade eigentlich. Wenn ich die Beiden öfters sehen würde, dann hätte ich ihnen endlich von Mika erzählen können. Bisher weiß das neben meiner Familie nur Julia. „Dann müssen sich die Anderen aus der Klasse eben benehmen. Dann ist das Problem auch gegessen.“
Nach und nach gehen meine Mitschüler nach Hause.
Ich würde gern auch gehen, aber ich muss noch auf Julia warten. „Trink mal dein Bier leer, außer uns ist nur noch Tobi da“. Tobi ist nur noch da, weil er Klassensprecher ist. So gut kennen wir ihn nicht, als dass er noch wegen uns da wäre.
„Das Kind meines Bruders ist eigentlich ein Mädchen, Claire heißt sie,“ korrigiere ich Tobi wegen vorhin.
„Ich weiß. Aber hätte Christian herausgefunden, dass du was mit einem Jungen hast, dann hätte er dich gemobbt.“
„Du weißt von Mika?“, entsetzt starre ich meinen Mitschüler an, „aber woher?“
„Ich habe euch im Sommer Hand in Hand herumlaufen gesehen. Man hat sofort gemerkt, dass ihr ein Paar seid. Ihr passt zusammen.“
„Vielen Dank. Könntest du es bitte für dich behalten, bis ich bereit bin, es von mir aus zu sagen?“
„Ich hätte keinen Grund darüber zu reden.“
Ein Glück! Der Abend hätte richtig in die Hose gehen können!
Ich stehe vor dem Kleiderschrank. Was zieh ich mir nur an? Es soll kalt werden, zu dünn darf es also nicht sein. Aber es muss schön sein, schließlich habe ich heute ein Date. Ich denke, ich nehme den Weihnachtspulli. Er ist zwar schrecklich kitschig und fast schon peinlich, aber Mama und Oma meinen, ich würde total süß darin aussehen. Und es kann ja nur von Vorteil sein, wenn Mika mich süß findet.
Zum sehr späten Frühstück gönne ich mir ein Stück Panettone und eine Tasse Spekulatius-Tee.
Es klingelt an der Tür. Schnell reiße ich sie auf. Doch weder Mika noch Julia stehen dort, stattdessen ist da Noah.
„Guten Tag, was machst du denn hier?“
„Hatten wir heute keinen Ausflug geplant? Julia meinte ihr würdet wegfahren und ich könnte mitkommen.“
„Davon hat sie mir nichts verraten, aber es ist schön, dass du auch mal wieder mitkommst.“
Während ich Noah hereinbitte packt mich plötzlich jemand von hinten.
Die Person umarmt mich fest von hinten und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Voller Freude rufe ich: „Mika! Ich habe dich so vermisst! Endlich habe ich dich wieder!“
Dabei drehe ich mich um und umarme ihn zurück.
„Das ist also Mika…“, bemerkt Noah verlegen. Ich spüre wie ich rot werde. Es ist unmöglich, dass Noah nicht bemerken könnte, dass Mika und ich mehr als nur Freunde sind.
Und schon wieder hat die liebevolle Begrüßung an der Tür uns verraten. Ich schicke die Beiden in mein Zimmer und hole den restlichen Tee und Panettone.
„Es ist… irgendwie unerwartet und ungewöhnlich, dass du mit einem Typen zusammen bist. Aber ihr scheint euch zu lieben, also ist das kein Problem. Das hättest du mir ruhig sagen können“, schmatzt Noah.
„Ich wollte es dir halt nicht einfach so sagen, denn es betrifft ja auch Mika. Dass du nicht so ein Arsch wie Christian bist, weiß ich ja.“
„Ich habe gar nicht daran gedacht, dass ich dich aus Versehen outen könnte, Leon. Das tut mir leid. Ich konnte dir einfach nicht widerstehen. Aber ich finde es schön, dass du mich dabeihaben wolltest, auch wenn ich …Noah?... nicht wirklich kenne.“
„Kein Problem“, meine ich, „ich will dich nicht verstecken. Wenn, dann müsste ich mit dir angeben! Und bisher gab es nur positive Reaktionen darauf… Was natürlich nicht immer der Fall sein wird.“
„Ich stehe voll hinter dir, Leon. Wenn jemand etwas Fieses über euch sagt, bekommt er Ärger mit mir. Und vor Julia muss er sich dann eh fürchten.“
„Wer muss sich vor mir fürchten, Noah?“
Irgendwie scheint Julia unbemerkt ins Haus gekommen zu sein.
„Na jeder, der über Leon und Mika lästert.“
„Das stimmt“, lachte meine beste Freundin, „Gestern Abend war ich kurz davor diesen Chris zusammenzuschlagen. Leonie hätte bestimmt mitgemacht. Diesen Arsch muss man endlich mal zur Vernunft prügeln!“
„Kommt ihr auch mal runter oder wollt ihr jetzt doch hierbleiben?“
„Wir kommen. Gedulde dich mal, Karl“, keift Julia während wir noch schnell unsere Jacken anziehen. Vor dem Haus sitzt Karl in seinem Auto.
„So groß ist Biberach doch gar nicht, wir können doch auch laufen“, meint Mika.
„Der Weihnachtsmarkt hier ist leider schon vorbei, aber wir fahren zu einem, der dich interessieren könnte,“ entgegnet Julia, während sie uns die Hintertür aufhält, „Auf der Fahrt dorthin habt ihr genug Zeit zum kuscheln.“
Kaum sitze ich im Auto kuschelt sich Mika tatsächlich an mich ran. Die enge Rückbank ist manchmal eben doch der perfekte Platz im Wagen!
Sanft streichle ich das zarte Haar meines Freundes.
Nach ungefähr eineinhalb Stunden erreichen wir Esslingen. Doch die Strecke ist nur die halbe Miete, denn an einem Adventssamstag einen bezahlbaren Parkplatz zu finden erweist sich als überaus schwierig.
Nachdem diese Hürde überwunden ist, stapfen wir durch die Stadt. Mehr als die Kälte friert mich das Knirschen des Schnees.
Der Duft von heißem Glühwein, Bratwurst und Waffeln weist uns den Weg zum Weihnachtsmarkt.
Die Vielfalt der Stände erschlägt mich fast. Es gibt so viel zu sehen! Neben den klassischen Essständen gibt es Speisen aus aller Welt, Kunsthandwerk wie Nussknacker & Räuchermännchen, Glaskugeln & -Eiszapfen, Metallarbeiten und Steinfiguren, Räucherware und Kräuter und so viel mehr! Klassisch beginnen wir den Bummel über den Weihnachtsmarkt mit einem heißen Glühwein und einer ebenso heißen Waffel. Und wie immer verbrenne ich mich an der Waffel! Der Glühwein hingegen schmeckt für seinen unverschämt teuren Preis von 4€ geradezu langweilig!
Bei einem Stand, der selbstgestrickte Socken, Schals und Mützen verkauft entdeckt Mika etwas, dass ihn interessiert. Er packt meine Hand und zieht mich zum Stand.
„Schau mal, was ich hier gesehen habe! Diese warme Wollmütze sieht aus wie eine superniedliche Kuh! Zieh sie dir mal an! Biiitte!“.
Wenn Mika mich so lieb anschaut, dann kann ich ihm diesen Wunsch unmöglich abschlagen, also ziehe ich das Ding an.
„Du siehst damit so süß aus, Leon! Die musst du dir kaufen!“
„Erst probierst du sie mal an, dir steht so etwas viel besser!“ Und in der Tat, zu Mikas niedlicher Art passt die Mütze wie die Faust aufs Auge!
„Sagte ich doch, sie steht dir“, meine ich und gebe ihm einen verliebten Kuss auf die Wange.
Die ältere Verkäuferin neigt sich aus ihrer Hütte zu uns. „Davon hätte ich auch eine zweite Mütze. Sie hat zwar braune Flecken und keinen um das Auge, aber die Hörner, Ohren und das freundliche Kuh-Gesicht sind gleich. Wenn ihr beide kauft, dann gewähre ich euch einen kleinen Rabatt“
Irgendwie hätte der Partnerlook etwas Romantisches, Verbindendes. Ohne einen weiteren Gedanken zu verlieren kaufe ich uns beide die Mützen. „Jetzt passt ihr noch besser zueinander“, grinst Noah uns zu. Wie aus Reflex nehme ich Mikas Hand.
Je weiter wir gehen desto schneller schlägt mein Herz. Wenn Mika nur wüsste, dass wir erst auf dem Adventsmarkt, und noch gar nicht auf dem Weihnachtsmarkt, der großen Überraschung für meinen Engel, angekommen sind…
Ehe wir uns versehen stehen wir inmitten von altertümlichen Buden, Gauklern und gewandeten Menschen.
Mit einem Freudenschrei fällt mir Mika um den Hals.
„Das ist ja ein Mittelalter-Weihnachtsmarkt! Wir sind extra hier her gekommen, weil ich Mittelaltermärkte liebe? Das ist so unglaublich süß und aufmerksam von dir!“, Tränen der Freude und Rührung laufen über sein Gesicht, „Ich hätte die letzten Wochen wirklich mehr Kontakt mit dir haben sollen. Es tut mir so leid. Ich habe jemanden so tollen wie dich niemals verdient.“
„Mika! Du bist einfach perfekt, wenn, dann habe ich dich nicht verdient. So wunderbar bist du!“.
Um meinen Worten Nachdruck zu verleihen küsse ich meinen Freund leidenschaftlich.
„Ekelhafte Drecksschwuchtel!“, grölt eine Gruppe Jugendlicher in unsere Richtung.
„Wenn jemand verrecken soll dann ihr! Wertlose Asoziale wie ihr vergiften unsere Gesellschaft!“, schreit eine andere Person aus der Menge. Mit bestimmtem Schritt tritt ein seltsamer Typ aus der Masse. Er trägt lange, spitze Stiefeletten, einen langen, schwarzen Mantel mit pelzbesetztem Cape, blass und düster geschminktem Gesicht und hochtoupierten Haaren.
„Wenn ich von euch noch einmal solch eine homophobe Äußerung höre, dann gibt es ernsthafte Konsequenzen!“, setzt er fort. Wie zur Verdeutlichung treten noch drei weitere seltsame Personen neben ihn.
„Hört auf meinen Freund zu beleidigen“, schrei ich.
„Mit uns allen könnt ihr euch nich anlegen. Aber versuchts nur, ich würde gern die Scheiße aus euch prügeln!“, schließt Julia sich an. Auch meine Freunde stehen hinter mir.
Nun in der Unterzahl ziehen sich die Assis zurück.
„Vielen Dank für deine Unterstützung. Ich hasse es, wenn man so mit meinem Mika umgeht“, meine ich zu dem Grufti, während ich meinen Engel wieder an mich heranziehe.
„Zivilcourage ist selbstverständlich. Außerdem kenne ich das Problem leider selbst. Wenn ich mit meinem geliebten Nathanael unterwegs bin“, dabei umarmte der Goth den Typen, der wie ein junger Gomez Addams ohne Bart aussah von hinten, „müssen wir uns selbst oft solche ekelhaften Dinge anhören. Dass wir nicht dem Mainstream angehören macht es nicht einfacher. Ich bin übrigens Vincent. Auch wenn ich gefährlich und düster aussehe, bin ich eigentlich ein lieber und gut gelaunter Mensch. Mit meinen Freunden verhält es sich genauso. Wie kommst du eigentlich darauf, dass dein Freund und nicht du gemeint bist?“
„Ganz einfach“, erkläre ich, „ich bin Hetero. Ich stehe eigentlich nur auf Frauen. Aber mein Mika hier ist so perfekt, sein Charakter ist einfach umwerfend, er sieht unglaublich gut aus, hat tolle Hobbies und ist einfach der tollste Mensch der Welt. Da ist es mir das Geschlecht total egal.“
Als er das gehört hat, wird Mikas Blick schwer und traurig. Vorsichtig löst er sich aus meiner Umarmung und ging hinter einen Stand. Irritiert starre ich auf die Stelle, an der er gerade noch stand. Dann rannte ich ihm hinterher. Mein geliebter Engel saß weinend auf einem Treppenaufgang.
„Was ist los? Habe ich irgendwas Falsches gesagt? Falls ja, tut es mir unglaublich leid. Ich will dich doch nicht verletzen. Ich liebe dich doch!“
„Das ist ja das Problem, Leon. Ich liebe dich ja auch. Aber wieder einmal ist mir klar geworden, dass unsere Beziehung keine Zukunft hat. Wie sehr ich auch mit der zusammenbleiben will, so werde ich doch älter. Und schon mit 30 verliere ich meine Androgynität, dann wirke ich rein maskulin. Und du bist ja eigentlich Hetero. Du… du könntest mich dann nicht mehr so lieben, wie du mich jetzt liebst. Nur aus reiner Freundschaft und Gutmütigkeit würdest du versuchen bei mir zu bleiben, bis es gar nicht mehr geht.“
„Ich gebe zu, darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Aber auch ich werde älter und damit unattraktiver. Das ist ganz normal. Aber man sieht ja an den ganzen älteren Ehepaaren, dass sich der Geschmack wohl mit dem Alter anpasst. Und außerdem hast du zwar einen verdammt scharfen und schönen Körper, aber noch attraktiver ist dein Stil und vor allem dein unglaublicher Charakter. Schlussendlich habe ich mich ja auch in ebendiese Dinge verliebt, und nicht in die, zugegebenermaßen perfekte, Hülle. Ich liebe DICH und dein Wesen, deine Art. Und das wird sich nie ändern. Außerdem glaube ich nicht, dass du mit dem Alter hässlich wirst. Deine innere Schönheit leuchtet so hell, sie wird immer nach außen strahlen und von deinem Äußeren widergespiegelt. Mach dir keine Sorgen, ich will aus Liebe mit dir zusammenbleiben. Für immer!“ Jetzt fließen auch bei mir die Tränen. Ich helfe Mika auf und drücke ihn fest an mich.
„Allein schon bei unserer schrägen Vorgeschichte hätte mir klar sein müssen, dass du nicht oberflächlich bist.“, entschuldigt sich mein Engel, „Aber solche Gedanken belasten einen einfach, da kann man nichts dagegen tun“.
Oh ja, ich weiß wie das ist, so ging es mir Anfang der Woche auch.
„Verzeiht mir, dass ich mitgehört habe“, kommentierte Nathanael, „aber ich war in Sorge. Aufgrund meiner Homosexualität hatte ich schon als Kind Depressionen. Daher musste ich euch unbedingt folgen. Du scheinst eine sehr interessante Person zu sein, Leon. Normalerweise leugnen Menschen ihre Homosexualität, weil sie Angst haben aufgrund dieser Ausgeschlossen, Gedemütigt oder gar körperlich Verletzt zu werden. Du aber zeigst deine Liebe zu deinem Freund in der Öffentlichkeit recht deutlich, du küsst ihn gar vor Allen. Und doch sagst du, du seist Hetero. Wie muss ich das verstehen?“
„Das ist schwer zu erklären, ich fand noch nie einen Jungen an sich attraktiv. Und die Vorstellung mit einer männlichen Person sexuell aktiv zu werden erregt größten Ekel in mir. Nur bei Mika kann ich mir das angenehm vorstellen. Selbst den Gedanken an seinen Penis finde ich… erregend. Aber dennoch stehe ich eigentlich nicht auf Männer. In ihn habe ich mich verliebt, als ich ihn noch für ein Mädchen gehalten habe. Nicht in echt, sondern in einem Videospiel,“ versuche ich das Verhältnis zwischen Mika und mir zu erklären. Wieso ich einem Fremden so persönliche Sachen erzähle, kann ich mir zwar nicht erklären, aber irgendwie fühlt es sich richtig an.
„Von Videospielen verstehe ich überhaupt nichts,“ meint Nathanael, „aber ich glaube zu verstehen, worauf du hinaus willst. Die romantische Liebe zwischen euch Beiden wirkt auf jeden Fall sehr stark. Und dass du ihn liebst, obwohl er ein Knabe ist, kann nur bedeuten, dass eure Liebe so echt und rein ist, dass sie auf ewig währen muss! Gib Acht auf deinen Mika so wie ich auf meinen Vincent Acht gebe. So tiefe Verbindungen sind äußerst selten. Genießt trotz dieses sehr negativen Zwischenfalls den Besuch dieser Festivität! Wir sollten nun unseres Weges gehen, bevor ihr noch weitere Pöbeleien ertragen müsst, da ihr euch mit recht auffälligen und ungewöhnlichen Personen abgibt. Au revoir!“
„Ach, das würde mir nichts ausmachen. Ich hätte zwar nie erwartet, dass ich mich mit Gothics abgebe, einfach weil ich nichts damit zu tun habe, aber ihr seid so freundlich, da wäre es schade einfach so wieder zu gehen. Und was die Anderen denken ist mir inzwischen echt egal. Mit Mika falle ich auch auf, selbst wenn wir nicht mal Händchen halten. Nur heute ist er so dick eingepackt, dass es nicht auffällt. Schade eigentlich, seine Nerdkleider sind meist so süß!
Außerdem glaube ich nicht, dass Vincent und deine anderen Freunde gehen wollen. Sie scheinen sich gut mit meinem Engel zu unterhalten!“
„Das freut mich doch sehr. Denn auch mir wäre es angenehm mit solch sympathischen Menschen wie euch Zeit zu verbringen. Und Vincent scheint sich bei dem Gespräch mit deinem Freund sichtlich wohl zu fühlen. Und wenn er glücklich ist, dann ist es mir mehr wert als alles andere.“
Diese Worte Nathanaels berühren etwas tief in mir. Auch mich macht es unglaublich glücklich, wenn ich Mika nur lächeln sehe, wenn ich weiß, dass er sich freut. Und ich weiß, dass auch Mika so fühlt. Schon wieder drängt mich etwas dazu ihm so nahe wie möglich zu sein.
„Worüber redet ihr denn?“, frage ich meinen Freund während ich mich ihm um den Hals werfe.
„Über die Mythen des Mittelalters und der Germanen und Kelten. Wusstest du zum Beispiel, dass die Hexenverfolgung aktiv erst im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit stattgefunden hat? Und dass der germanische Gott Loki sich in eine Stute verwandelt und mit einem Hengst das achtbeinige Pferd Sleipnir gezeugt hatte? Die Diskussion um die Marvel-Serie ist also absoluter Schwachsinn, wenn man bedenkt, dass Loki sich in der Mythologie öfters als weibliches Wesen ausgegeben hat. Seine ‚Genderfluidität‘ ist eben doch kein Trend, wie es die konservativen Idioten meinen. Und damit nehme ich Marvel in Schutz, obwohl ich DC bevorzuge.“
Das Glänzen in Mikas Augen, wenn er in seinem Element ist, ist so bezaubernd. Ich kann nicht aufhören ihn anzustarren. Plötzlich bemerke ich, wie nah ich seinem Gesicht gekommen bin. Ich spüre seine Wärme auf meinem Gesicht. Dieses Gefühl der Nähe ist so schön, dass ich es noch eine Weile genieße, bevor ich Mika endlich küsse.
„Ihr seid ein genauso traumhaftes Paar wie Vincent und Nathanael. Ich bin übrigens Neith. Und ja, das ist mein echter Name und kein Szenename. Wie man unschwer erkennen kann, bin ich Ägypterin“, stellt sich die Dame aus Vincents Gruppe vor. Sowohl die dunkle Haut als auch ihr Schmuck und Make-Up unterstreichen ihre Aussage. Nur die Kleidung ist nicht ägyptisch: Neith trägt einen fluffig-eleganten schwarzen Wintermantel, wahrscheinlich aus Wolle mit Kunstfell und hochhackige Leder-Overknees.
„Und ich bin Paul. Deine Freunde hier ham sich schon vorgestellt. Ich lieb eure Mützen, die sin voll cool!“. Jetzt weiß ich auch, wie der Punk aus der Gruppe heißt. Alles in allem scheinen diese Personen sehr sympathisch zu sein, obwohl sie sehr extrem aussehen.
Auch Nathanael hatte sich wieder zu der Gruppe gesellt. Gemeinsam mit den Anderen gehen wir von Stand zu Stand. Bei einem Schmuckhändler entdeckt Mika einen Ring mit einem Drachen, der sich um den Finger wickelt, aber auch die Triforce Ohrringe an einer langen goldenen Kette scheint ihm sehr zu gefallen. Mit dem Blick auf den Preis scheint Mikas Interesse an den Ohrringen verpufft zu sein. Den Ring holt er sich aber.
Auch die Anderen scheinen das ein oder andere Schmuckstück zu kaufen.
Heimlich schaue ich auf das Schild an den Ohrringen. Echtsilber, vergoldet. 50€. Ich schlucke. Aber für meinen Schatz ist es das Wert. Und aus dem Fernsehn weiß ich, dass man seinem Herzblatt Schmuck schenkt.
Und schon habe ich die Ohrringe gekauft.
Plötzlich höre ich ein Klatschen. Mit erhobener Hand schreit Neith einen Mann an: „Finger von meinem Hintern du abartiger Grabscher! Ich bin doch kein Freiwild!“
„Entschuldige dich gefälligst bei der Dame!“, keift Noah.
Widerwillig entschuldigt sich der Typ.
„Das passiert mir einfach zu oft“, seufzt Neith, „dabei muss ich nicht mal etwas Aufreizendes tragen wir Goth-… entschuldige Vincent, wir Frauen aus der schwarzen Szene werden von Stinos so oft sexualisiert und objektifiziert, dass es schon widerlich ist. Im Internet suchen die Typen aktiv düster-alternative Mädchen, nur wegen den Äußerlichkeiten und der Erwartung von wildem Sex. Aber wenn so einer dann mal eine verführt hat, dann muss sie sich ansonsten möglichst mainstreamig verhalten und wenn man gemeinsam unterwegs ist, sollte sie sich auch harmlos kleiden. Ekelhafte Sexisten!“
„Das ist ja wirklich ekelhaft. Ihr werdet zwar ausgeschlossen und beleidigt, weil ihr anders seid, aber wenn es darum geht seinen Fetisch zu befriedigen, dann sind Gothic-Frauen gut genug?! Traurig. Da schäme ich mich fast schon zu den ‚Normalen‘ zu gehören…“, kommentiere ich den Vorfall.
„So normal bist du auch wieder nicht, schließlich bist du ja mit einem schrägen Vogel wie mir zusammen!“
„Das stimmt, Mika. Du bist wirklich ungewöhnlich. Und das liebe ich so sehr an dir!“
„Ich denke nicht, dass alle ‚Normalen‘ so schlimm sind. Ich habe noch nie schlecht über Menschen gedacht, die anders sind.“, meint Noah, „Egal ob Sexualität, Hautfarbe, Behinderung oder eben Szene. Ich finde es sogar cool, wenn jemand sein eigenes Ding macht. Und grabschen oder objektifizieren finde ich eh widerlich.“
„Tatsächlich sind die wirklich erwachsenen meistens nett. Wenn‘s nicht gerade irgendwelche Perversen sind. Gut, manchmal schauen se komisch, aber sonst geht’s eigentlich. Solang ich nich schnorr oder bettel. Dann war ich natürlich wieder der ‚Dreckspunk‘. Unnützer Ballast. Aber unter den Jugendlichen gib’s viele Assis. Doch sogar manche Hiphopper sin voll korrekt! Aber deren Deutschrap. Bäh!
Und ihr seid auch ganz cool!“, stimmt Paul zu.
„Ne, mit den Hiphoppern haben wir nich so viel zu tun,“ meint Julia, „Ich find deren Sprache schlimm, und das sag ich als Jugendliche.“ Jetzt brechen wir in schallendes Gelächter aus.
Vorbei an Ständen mit Trinkhörnern, Krautschupfnudeln mit Speck, Schilden, Weihnachtskarten und heißem Met führt uns der Weg zur lebensgroßen Weihnachtspyramide.
Langsam versinkt die Sonne und der Weihnachtsmarkt verwandelt sich mehr und mehr in ein leuchtendes Winterwunderland. Die weihnachtliche Musik, die Düfte, das Tannengrün und die liebevolle Deko runden die romantische Atmosphäre ab. Es ist so schön diesen Tag mit meinen Freunden und vor allem mit meinem Geliebten zu verbringen!
Mit unserem heißen Kakao stehen Mika und ich ganz eng aneinander gekuschelt und genießen die Stimmung. Auch Julia & Karl und Nathanael & Vincent halten sich verliebt in ihren Armen. Derweil scheinen die anderen Drei in ein Gespräch vertieft zu sein.
Etwas Kaltes tropft auf meine Nase. Kurz darauf legt Mika seinen warmen Finger auf die Stelle. „Da war eine Schneeflocke. Wenn es jetzt richtig schneit, dann wäre die Weihnachtsstimmung perfekt! Und es wäre eine so romantische Kulisse für den Perfekten Kuss!“ Der perfekte Kuss? Erst süß und romantisch, dann saugend und zum Schluss erotisch mit Zunge oder was meint er damit? Auf jeden Fall kann ich es jetzt nicht mehr abwarten, dass das Schneegestöber endlich richtig beginnt!
Ein paar Meter weiter finden wir ein skurriles Mini-Riesenrad, dass von Hand betrieben wird.
„Wie schade, dass nur Kinder damit fahren dürfen!“, meint Vincent.
„Ich wäre gern mitgefahren!“, grinst Mika. Auch wir anderen stimmen den beiden zu. Ich liebe Fahrgeschäfte!
„Ich habe dort vorne ein schönes, altes Karussell gesehen, da saßen Menschen jeder Altersklasse drauf. Eigentlich wollte ich vorhin schon unbedingt mitfahren, aber ihr wart so in euer Gespräch vertieft“, weist Neith uns hin, „fast hätte ich euch verloren, ich war wie hypnotisiert!“ Dann greift sie Paul und Noah an der Hand und zerrt sie zügig zu der Attraktion. Auch wir rennen hinterher.
Über eine Treppe erreichen wir die zweite Etage des Karussells. Liebevoll hievt Vincent seinen Freund auf das Karussell-Pferd. Diese romantische Geste finde ich schön, das würde ich mit Mika auch gern machen! Doch während ich meinem Engel aufhelfe grabsche ich ihm so richtig an seinen heißen Arsch. Knallrot entschuldige ich mich bei ihm.
„Das ist doch nicht schlimm, Leon. Wenn du mir dorthin fasst ist es irgendwie schön.“
Grinsend steige ich auf das Pferd neben Mika. Noch ehe ich richtig sitze setzt sich das Karussell schon in Bewegung. Mein Freund streckt mir seine Hand entgegen, die ich sofort ergreife. Karussell fahren macht an sich ja schon sehr viel Spaß, aber wenn man dann noch mit seinem Geliebten Händchen hält… Das ist ein einmaliges Erlebnis, dass man so schnell nicht vergisst.
Nachdem wir das Karussell verlassen haben begutachten wir es noch eine Weile. Vor allem Neith scheint davon fasziniert zu sein.
„Wie gern hätte auch ich eines dieser Karussell-Pferde in meiner Wohnung! Diese Holzfiguren sind so filigran gearbeitet! Es gibt sogar diese ‚Wiegen‘ und Mini-Karussells! Und habt ihr das Pferd auf dem Dach gesehen? Und die schönen Bildtafeln oben! So charmant! Und es versprüht den Stil und die Atmosphäre eines klassischen Karussells! Ich liebe klassische Karussells!“
Inzwischen haben sich die einzelnen Schneeflocken schon so sehr vermehrt, dass man sagen könnte: „Es schneit.“
Mika schlingt seine Arme um mich und blickt mich mit seinen leuchtend blauen Augen an. Dann legt er sanft seine Lippen auf meine. Erst küsst er mich verliebt und schüchtern wie bei unserem ersten Kuss. Nachdem wir das voll ausgekostet haben beginnt er mit seinen Lippen an meinen zu spielen, erst vorsichtig und dann immer wilder, bis er mit seiner Zunge vorsichtig in meinen Mund eindringt und sie an meiner reibt. Voller begehren lasse ich eine meiner Hände über seinen Rücken hinunter zu seinem wohlgeformten Hinterteil gleiten. Im Hintergrund höre ich Nathanael zu Vincent flüstern, dass es jetzt die richtige Gelegenheit wäre es uns gleich zu tun. Danach vernehme ich das Schmatzen eines leidenschaftlichen Kusses.
Nachdem Mika und ich unseren Kuss gelöst haben sehe ich die Beiden noch immer eng in sich verschlungen. Dabei hat Nathanael ein Bein um seinen Vincent gelegt. Für seine gehobene Ausdrucksweise ist Nathanael sehr munter und anhänglich, ja, in dieser Hinsicht erinnert er mich irgendwie an meinen Schatz!
Jetzt wäre der perfekte Moment, Mika das Geschenk zu geben. Also streichle ich sanft seine warme Wange und streife ihm sein Haar hinter das Ohr. Dann nehme ich ihm seinen Ohrring heraus und stecke ihm den ‚Zelda‘ Ohrring an. Er schmeichelt Mikas androgyner Art!
Mit einem Blick auf sein Smartphone sieht mein Engel den Schmuck.
„Du hast mir den Ohrring gekauft, obwohl er so teuer ist? Das ist so unglaublich süß! Das musst du wirklich nicht machen! Versteh mich nicht falsch, ich freue mich total darüber und werden ihn sicher nicht mehr hergeben, aber du musst wirklich keine teuren Geschenke für mich kaufen! Ich liebe dich auch so!“
„Ich weiß, aber ich dachte, er gefällt dir.“, entgegne ich, „Wenn ich dir damit eine Freude machen kann, dann ist mir das Geld egal! Und ich sehe wie sehr du strahlst! Du musst mir auch gar nichts schenken, das Leuchten in deinen Augen ist…“, noch ehe ich fertig gesprochen habe springt mir mein Mika um den Hals, „du bist so perfekt!“, raunt er mir ins Ohr.
Gerade als wir uns auf den Heimweg machen wollen, hält Nathanael uns auf.
„Bevor ihr euch auf den Heimweg begebt möchte ich euch noch dazu anhalten einen heißen Met mit uns zu trinken. Ich gebe ihn aus!“
Und so stellen wir uns noch einmal mit unseren neu gefundenen Freunden an einen Holztisch, Tauschen unsere Kontaktdaten für Social Media aus und trinken den Honigwein.
Beim ersten Schluck schmeckt es noch sonderbar, aber schon beim Zweiten gefällt mir das Aroma. Nur Julia scheint es nicht zu schmecken. Aber aus Dankbarkeit trinkt sie mit verzogener Miene weiter.
„Hier scheint es wohl einen Mitmach-Zirkus zu geben“, meint Neith, „Zumindest habe ich jemanden darüber reden gehört. Ich wäre da echt gern noch hin gegangen, aber inzwischen wird der fertig sein. Schade.“
„Du magst Zirkus?“, fragt Noah, „Ich liebe Zirkus! Früher als Kind war einmal so ein Mitmach-Zirkus bei uns in der Grundschule! Das hat mir damals so gefallen, dass ich zum Turnen gegangen bin. Und auch heute mache ich das noch…“, plötzlich hört er auf zu reden und läuft rot an, „Ich äh… also… ihr wusstet ja, dass ich oft keine Zeit habe. Ich bin in einem Turnverein. Das ist mir jetzt peinlich. Ihr denkt bestimmt, dass das voll der Mädchensport ist und so…“
„Ach deswegen bist du so muskulös! Ich dachte immer du gehst pumpen. Wenn es dir spaß macht, dann machs einfach! Aber dass du uns nicht vertraut hast und es nicht verraten hast!“, schimpft Julia.
„Das ist so cool!“, meint Neith begeistert, „Welche Disziplin turnst du?“
„Ich habe eigentlich schon die meisten Disziplinen ausprobiert. Am liebsten habe ich aber Barren und Reck.
„Das habe ich auch mal gemacht, dann habe ich mich aber auf die Ringe spezialisiert. Inzwischen fehlt mir einfach die Zeit. Jetzt ich dafür einen Aerial Hoop-Kurs in einem Poledance-Studio angefangen. Und nein, das ist kein Stripclub. Wobei ich das auch gerne mal lernen würde. Aber zurück zum Thema. Wie lange machst du das schon? Wie viel Erfahrung hast du? Gehst du auch zu Turnieren?“
„Aerial Hoop? Da werde ich glatt neidisch! Hm… damals war ich sieben, jetzt bin ich 17… das sind also 10 Jahre. Dementsprechend habe ich schon ein wenig Erfahrung, auf Tournieren war ich auch schon. Goldmedaillen habe ich aber leider nicht so viele, gerade mal zwei, und drei Mal Silber.“
„Du scheinst den Sport so sehr zu lieben, aber du hattest trotzdem Angst, dass wir dich nicht mehr ernst nehmen? Dabei sind wir doch Freunde! Aber ich hätte wahrscheinlich genau so gehandelt. Beim nächsten Turnier feuern wir dich an, dann wirst du auf jeden Fall Gold holen!“
„Jetzt wisst ihr ja von meinem ‚geheimen‘ Hobby. Wenn ich offen damit umgehe bin ich bestimmt weniger verkrampft und kann daher bessere Ergebnisse erzielen!“
Bis wir die Tassen leer haben sprechen wir noch über die Zirkus- und Akrobatik Vorlieben unserer Freunde. Dann aber gehen wir wirklich.
„In welche Richtung müsst ihr überhaupt? Wir haben daaa vorne geparkt“, meint Neith während sie weit in die Ferne zeigt.
„Das ist auch unsere Richtung“, antworte ich. So können wir doch noch ein Stück mit unseren neuen Freunden gehen.
In einer Seitenstraße kauert ein Obdachloser frierend auf dem Boden. Wie gerne würde ich ihm helfen, ein wenig Geld oder zumindest eine Decke geben. Aber mein letztes Geld ist für die Ohrringe draufgegangen, das Bisschen Münzgeld, dass ich noch hatte, habe ich in eine Spendenbüchse geworfen.
Mika geht sofort auf den Mann zu, grüßt freundlich und drückt ihm seinen Schal in die Hand. Dankend nimmt der Bettler die Spende an.
„Ich weiß wie du dich fühlst,“ meint Paul, „Niemand hilft dir, du wirst beleidigt, alle hassen dich. Und arbeiten gehn kannste auch nich. Viel hab ich nich, aber nimm die Handschuhe und n paar Euro.“
Nathanael greift in seinen Geldbeutel und holt ein Paar birnengelbe Scheine heraus. Diese steckt er dem Obdachlosen zu. „Ich gebe dir 400€, mehr habe ich leider nicht dabei. Das mag zwar viel erscheinen, doch ist das Geld schnell ausgegeben, und eine sichere Zukunft kannst du dir damit leider auch nicht kaufen, aber du kannst zumindest etwas vernünftiges zu Essen holen und ein paar warme Klamotten. Versuch dich bitte an die Obdachlosenheime oder so zu wenden. Ich weiß, dort ist es nicht immer angenehm, es wird viel geklaut, es riecht unangenehm, und manche Heime wirken eher wie Gefängnisse, aber zumindest ist es dort warm, trocken und halbwegs sicher.“
Der Obdachlose starrt Nathanael genauso perplex an, wie ich. Hat dieser Junge dem Bedürftigen ernsthaft 400€ gegeben?!
Vincent lacht: „Mein Nathanael ist sehr reich. Geld ist für ihn Mittel zum Zweck. Und er sieht den ‚Guten Zweck‘ als besten Zweck an. Damit hat er ja auch recht. Zuhause tut er viel für die Bedürftigen. So unterstützt er unter anderem eine Notunterkunft, damit diese möglichst human und angemessen ist. Am 2. Weihnachtsfeiertag veranstaltet er eine kleine Gala für all jene, denen es nicht so gut geht. Ihr seid auch eingeladen. Wenn ihr wollt, dürft ihr uns dann auch gerne helfen!“
„Aber gerne doch.“, rufe ich begeistert, „Was meint ihr?“: meine Freunde nicken alle zustimmend. Eine Weile sprechen wir noch mit dem Obdachlosen. Man merkt ihm an, dass er sich nicht nur über das Geld, sondern auch das freundliche Gespräch freut. Immer mehr erkenne ich, dass viele Obdachlose eben nicht diesen Weg gewählt haben. Oft sind es Menschen, von denen sich die Familie abgewandt hatte, als es ihnen schlecht ging, und sie nur noch im Alkohol Trost finden konnten. Traumatisierte Menschen, die keine Arbeit annehmen können, Menschen, die die Gesellschaft einfach auf die Straße gesetzt hat. Und bei weitem nicht jeder Obdachlose trinkt oder nimmt Drogen. Ich habe das Gefühl, dass dieses Gespräch mich noch länger beschäftigen wird.
Der Wagen von Vincent und seinen Begleitern entspricht beinahe dem Klischee: Es ist ein 20er Jahre Leichenwagen, bei dem eine weitere Sitzbank auf die Ladefläche montiert wurde. Dieses Gefährt wirkt wie eine Kreuzung aus einem Leichenwagen und einer schicken, alten Kutsche; ein Mausoleum auf Rädern. Bevor wir weitergehen machen wir noch ein Gruppenselfie vor dem Auto.
Schon wieder stehe ich vor dem Kleiderschrank und weiß nicht, was ich tragen soll. So viel elegantes habe ich doch gar nicht! Also ziehe ich mir halt einfach meine schwarze Stoffhose und das einzige einfarbige Hemd an, das ich habe. Und wenn es halt mintgrün ist! Von meinem Vater bekomme ich dann noch eine passende, dunkelgrüne Krawatte. Da ich kein Sakko habe schmeiß ich mir die schlichteste Jacke über, die ich finden kann. Schwarze Leder-Halbschuhe habe ich zum Glück auch noch. Danach gehe ich raus. Und keine Sekunde zu früh, denn Julia und Karl kommen gerade angefahren.
Auf dem Weg zur Gala gabeln wir zuerst Noah und dann noch Mika auf. Er sieht heute so unglaublich gut aus! Neben der eleganten Frisur trägt er noch etwas goldenes Make-Up auf den Augen, die er mit etwas Goldglitzer verlängert hat. Das steht ihm! Und dabei wirkt er trotzdem nicht tuntig. Seine Kleidung ist unter einem Mantel versteckt, aber bei meinem Engel erwarte ich etwas Besonderes!
Kaum ist er eingestiegen drückt Mika mir ein Bündel Kleider entgegen. Dann umarmt er mich und gibt mir ein Küsschen.
„Du meintest mal, dass du noch gar keinen Anzug oder so besitzt, deswegen habe ich dir hier etwas dabei. Das kannst du nachher ja anziehen. Das ist nur ein Gehrock und eine Weste, nichts all zu besonderes. Aber das war das Einzige, was ich in deiner Größe finden konnte.“
„Danke! Das ist so süß von dir! Ich hätte sonst nur ein Hemd mit Krawatte an.“
So schlicht sind die Kleider doch gar nicht!“, meine ich zu Mika nachdem ich die Jacke an der Garderobe abgelegt und Weste und Gehrock angelegt habe. Neben einem Kragen hat die Weste auch noch goldene Stickereien und hat am Brustbereich noch zusätzliche Stoff wie an einem Trenchcoat. Der Gehrock hingegen ist zwar schlicht, aber keineswegs alltäglich.
Mit einem Blick auf Mikas Garderobe weiß ich sofort, was er damit gemeint hat: Er trägt eine wollene marineblaue Nadelstreifenhose, dazu Lackschuhe und obenrum ein weißes Hemd mit einer schicken Weste und einer blauen Schleife und dazu einen dunkelblauen Samtfrack! Bei genauerem Betrachten erkennt man auf dem Rücken des Fracks ein Art-Deco-Muster.
„Ja,“ grinst Mika, „das ist der Frack von ‚Jiminy Cricket‘ aus dem neuen ‚Pinocchio‘-Film von Disney. Es hat mich Tage gekostet, die meiste Zeit habe ich für das Muster gebraucht. Und da ich mit richtigem Samt gearbeitet habe, durfte ich keinen Fehler machen. Das Zeug ist gar nicht so billig! Und deine Weste habe ich mal für ein ‚Oz Vessalius‘ Cosplay genäht. Das ist der Hauptcharakter aus dem Anime ‚Pandora Hearts‘. Leider ist mir das Stück etwas zu groß geraten, du kannst die Weste also gerne behalten. Den Gehrock habe ich vom Theaterflohmarkt. Der ist mir auch ein wenig zu groß. Du darfst den natürlich auch behalten.“
„Das kann ich nicht annehmen“
„Leon, Schatz, das ist ein Geschenk. Du hast mir ja auch die Ohrringe und die süße Kuh-Mütze geschenkt!“
„Danke!“, raune ich Mika zu, bevor ich ihm einen kleinen Kuss auf die Wange gebe.
„Schön, dass ihr schon so früh da seid!“, grüßt uns Vincent.
„Nun ja, wir wollten unbedingt so früh wie möglich da sein, damit wir viel helfen können. Ich habe mich letztens eh total unnütz gefühlt, weil ich nichts für den Obdachlosen machen konnte.“
„Sag doch sowas nicht, schließlich hast du mit ihm geredet. Neben den physischen Grundbedürfnissen sind Zuwendung und im allgemeinen Gespräche überlebenswichtig. Und das sage ich nicht nur so. Es gibt Studien, die das belegen. Und im Allgemeinen ist es auch für die Psyche und das Wohlbefinden eine Wohltat mit netten Menschen eine Unterhaltung zu führen! Im Übrigen seht ihr sehr schick aus!“
„Danke, du aber auch! Das transparente Hemd passt gut zu der Strass-besetzten Weste! Und die feinen Stickereien… das ist eindeutig Handarbeit!“, schwärmt Mika.
„Merci Beaucoup! Die Weste habe ich tatsächlich selbst bearbeitet, sie komplett zu Nähen hätte ich wahrscheinlich nicht geschafft.
Wir sollten jetzt zu Nathanael und den Anderen gehen. Wollten Julia, Karl und Noah nicht auch noch kommen?“
„Ja, sie sind mit uns hierhergefahren, aber sie müssen wohl noch etwas abholen.“
„Das freut mich! Es ist schön euch alle mal wieder zu sehen.“
Vincent führt uns durch die Gänge des riesigen, verwitterten Anwesens. Interessant an der Gestaltung ist, dass der alte Glanz und die Eleganz wieder hergestellt wurden, der Zerfall und die Spinnenweben aber beibehalten wurden. Ich fühle mich fast wie am Set von der ‚Geistervilla‘. Das flüstere ich auch Mika zu.
„Wenn, dann eher ‚Haunted Mansion Holiday‘, die Weihnachtsversion der Disneyland Attraktion, auf der der Film basiert. Aber ja, dieser ‚Geisterhaus‘-Stil ist beabsichtigt“, korrigiert mich Vincent.
Bei genauerem Hinschauen entdecke ich zwischen der klassischen antiken Weihnachtsdeko Knochen, Fledermäuse, Schädel, Spinnen und andere makabre Dekorationen. Auch ein paar weihnachtlich-düstere Gemälde sind an den Wänden: Krampusse, Knecht Ruprecht, die Yule-Wesen, die Geister aus der ‚Christmas Carol‘, der Yeti, die Abtei im Eichwald und Szenen aus den Tim Burton Filmen ‚Nightmare before Christmas‘ und ‚Batman Returns‘ und noch viele weitere schauerliche Weihnachts- und Winterszenen.
In der Küche ist Nathanael gerade dabei eine ganze Schar Menschen, darunter auch Paul und Neith, einzuweisen.
„Die anderen sind Ehrenamtliche. Ohne denen würde dieses Projekt niemals laufen“, flüstert Vincent uns zu.
Mika und ich sollen die Requisiten und Kulissen der Bühne schleppen und vorbereiten. Das ist ein riesen Aufwand, da ein Großteil der Objekte noch in der Abstellkammer neben dem Eingang verstaut ist. Und für eine einzige Show wird ganz schön viel Material benötigt, was ich nie gedacht hätte.
Nachdem wir damit fertig sind helfen wir noch beim Bestuhlen.
In der Zwischenzeit sind auch Julia und co. wieder da. In ihrem dunkelblauen Abendkleid mit den funkelnden Steinen sieht sie aus wie ein Sternenhimmel, einfach unglaublich schön. Der weite Ausschnitt am Rücken ist zudem ziemlich scharf! Die beiden Jungen hingegen tragen einen einfachen Anzug.
Endlich ist es so weit und die Gäste; Bedürftige aller Art, von Sozialpassempfängern bis hin zu Obdachlosen, treten ein.
Nachdem wir jedem ein Glas Champagner oder Perrier Menthe, ein französischer Sprudel mit Minzgeschmack, gegeben haben sollen auch wir ein Glas nehmen. Karl als Fahrer möchte ablehnen, doch Nathanael bleibt aufdringlich: „Ihr wisst schon, dass ihr hier übernachten werdet? Wir haben genug freie Zimmer, dieses Anwesen ist doch recht groß, so viele der Obdachlosen haben sich gar nicht zum Übernachten angemeldet. So viele direkt aus dieser Stadt sind es nicht, und der Rest wird mit dem Bus in ihre Städte zurückgefahren.“
„D…Danke für das tolle Angebot. Aber dann wäre es ja so, als ob wir für unsere Hilfe bezahlt werden würden. Das wäre falsch.“, entgegne ich.
„Nein!“, widerspricht mir Vincent, „Ihr wart ja eingeladen ungeachtet dessen, ob ihr helft oder nicht. Damit sind diese beiden Angelegenheiten strickt zu trennen! Als unsere Freunde seid ihr Gast, als Helfer seid ihr Ehrenamtliche. Wir würden uns sehr freuen, wenn ihr danach noch bleibt! Ihr dürft auch beim Frühstück helfen.“
„Also gut, dann nehmen wir das Angebot an. Aber dafür helfen wir auch morgen beim Aufräumen!“
Wenige Minuten später finden wir uns an dem Tisch für die besonderen Gäste wieder. Der Vorhang öffnet sich und ein großer, gedeckter Tisch kommt zum Vorschein. Darauf steht ein als Kerzenständer verkleideter Mensch. Neben ihm steht eine übergroße Teekanne. Ein wenig weiter hinten in der Kulisse steht eine große Standuhr mit Gesicht.
Mit welchem Lied die Show eröffnet wird kann ich mir schon denken: ‚Sei hier Gast‘ aus ‚Die Schöne und das Biest‘. Nach dieser Nummer kommt die Begrüßung durch Nathanael in einem roten Frack und Zylinder. Dieser Rede folgt das Amuse-Bouche, eine Auster Rockefeller.
Bei der nächsten Nummer steht ein Clown der Hilfsorganisation ‚Clowns ohne Grenzen‘ auf der Bühne. Normalerweise spielen die Mitglieder dieser Organisation in Krisengebieten um den Bedürftigen dort ein Lächeln zu schenken, ihnen Herzlichkeit zu spenden und sie von ihrem Alltag abzulenken. Sie geben diesen Menschen damit ein schönes Erlebnis, dass sie festhalten und von dem sie zehren könne.
Danach können wir Vincent höchstselbst als Illusionisten, als Bühnenmagier sehen. Passend zu ihm sind seine Tricks sehr mystisch und makaber angelegt, so ist bei der ‚Zersägten Jungfrau‘ Kunstblut im Spiel, es werden die Geister der Weihnacht ‚beschworen‘ und Ähnliches.
Die Ehrenamtler Verteilen die Salatvariation.
Zu einer orientalisch klingenden Version von ‚We Three Kings‘ performen Neith und ihre Schwester eine erotische Bauchtanznummer. Bei jedem Schwung der Hüfte sieht man die Münzen am BH auf den Wohlgeformten Bauch fallen.
Während des Applauses wird der erste Hauptgang, Katsuo no Tataki, ein japanisches Bonito-Fischgericht, gereicht.
Weitere Nummern folgen, unter anderem ein Steppsolo von Nathanael, eine Feuerkünstlerin, eine Aerial Hoop Performance von Neith und eine Kampfsportchoreographie von Julia und Karl.
Während Paul eine kurze Rede zum Thema Armut und Hilfsorganisationen hält, wird der zweite Hauptgang, ein saftiges Roastbeef mit Herzoginnenkartoffeln, serviert.
Nun ist es an der Zeit für unseren großen Auftritt. Momentan führt die örtliche Tanzschule noch Auszüge aus dem Nussknacker auf. Ich helfe Mika dabei den bestickten transparent-blauen Umhang anzuziehen. Dann stimme ich den elektrischen Bass.
Während der Bauchredner vor dem Vorhang seine Nummer vorträgt wird hinter den Kulissen kräftig umgeräumt: Ein hellblauer, fast weißer Vorhang begrenzt die Bühne nach hinten, ein paar Plexiglas-Möbel werden auf die Bühne gestellt und von der Decke werden Eiskristall-Elemente heruntergelassen.
Ich gehe in Position. Dieses Mal gibt es keine Ansage vom Conférencier, da dieser mit uns auf der Bühne spielen wird. Das Licht geht aus. Der Vorhang öffnet sich. Die Scheinwerfer tauchen die Bühne in ein sanftes, blaues Licht. Das Vorspiel erklingt auf dem Flügel, der von den Bühnenhelfern hereingeschoben wird. An den Tasten sitzt Nathanael und auf dem Deckel liegt Mika in einer aufreizenden Pose. Elegant greift er nach dem altmodischen Mikrofon.
Mit kräftiger Stimme gibt mein Freund ‚Let it Go‘ aus ‚Frozen‘ zum Besten! Es klingt fast so, als ob dieses Lied nur für ihn geschrieben wurde, da kann Elsa einpacken!
Selbstverständlich bekommen wir tosenden Applaus!
Das nächste Lied einer Eiskönigin ist schon düsterer. Es ist ‚Ich hasse Santa Claus‘ aus dem Film ‚Rudolph mit der roten Nase‘. Mika passt seinen Gesang an Nina Hagens Genie an: Er quietscht wie Martyn Jacques, grunzt wie Tom Waits und springt dann zu einem Bariton mit übertrieben rollendem ‚r‘ gleich Heino. Ich wusste ja, dass er gut singen kann, aber dass er so ein umfangreiches Talent besitzt?!
Nach den ersten verstörten Blicken macht sich Begeisterung im Publikum breit. Kaum dass der Vorhang zu ist, muss ich meinen Engel einfach küssen.
Gerade zum dritten Gang, einer feinen Käseplatte, die sowohl Klassiker wie Brie, Cheddar und Manchego als auch etliche Sorten, die ein Laie wie ich niemals erkennen würde. Und bei einigen muss ich mich zwingen sie aus Höflichkeit zu essen, da sie zu sehr stinken. Zum Glück ist der Rotwein kräftig genug um die Brocken runterzuspülen.
Nun kündigt Nathanael die nächste Nummer an: „Hoch verehrte Damen und Herren, und auch alle anderen, kommen wir nun zu einer Weihnachtsfreude, die Sie alle verzaubern wird! Ein Feuerwerk der Leidenschaft, ein Pulverfass prickelnder Erotik! Dass ihr Körper sich wie eine Schlange winden kann, davon durften Sie sich schon überzeugen, jetzt tritt sie für euch noch einmal auf, Neith, der Stern des Morgenlands!“
Aus den Lautsprechern klingt ‚Santa Baby‘ von Eartha Kitt. In einem schwarzen Weihnachtsmann-Kostüm schreitet Neith mit laszivem Hüftschwung auf die Bühne. Kunstvoll entkleidet sie sich zur Musik, bis sie nur noch ein schwarzes Korsett mit weißem Pelz und einen schwarzen String trägt.
„Ich liebe Burlesque“, flüstert mir Vincent zu, „und im Gegensatz zum plumpen Striptease geht es hier mehr um das Verführen und die Kunst, und nicht darum irgendwelche notgeilen Männer zu erregen. Gleich kommt das Beste:“
Jetzt öffnet Neith die Schnallen ihres Korsetts und dreht sich um. Dann öffnet sie eine Seite des Korsetts und wedelt neckisch damit, dann macht sie das mit der anderen Seite. Schwungvoll reißt sie sich das Kleidungsstück ab, schleudert es in Kreisen über ihrem Kopf und lässt es dann fallen. Die Tänzerin dreht sich um und wirbelt die Fransen an ihren Nippel-Klebern.
Unter tosendem Applaus geht sie von der Bühne ab, bevor sie hinter dem Vorhang verschwindet wackelt sie noch einmal mit dem Hintern.
Ein Jongleur führt atemberaubende Tricks mit Messern und Fackeln auf, danach balanciert ein Artist auf einer Rola-Rola.
Jetzt stellt der Conférencier den letzten Act des Abends vor: Noah am Barren. In seinem blauen Zirkus-Artisten-Kostüm bewegt er sich grazil an dem Sportgerät, wirbelt herum und überschlägt sich.
Soweit ich das beurteilen kann, ist er ziemlich gut darin, es ist auf jeden Fall faszinierend anzusehen!
Nach dieser Nummer müssen wir alle noch einmal auf die Bühne um uns zu verbeugen und den verdienten Applaus abzuholen.
„Die Freude und Dankbarkeit der Gäste sind mehr wert als alles Geld der Welt. Vor allem, wenn man dabei denen helfen kann, die es am nötigsten haben.“, meint Nathanael, „Aber ein einziger Abend im Jahr ist zu wenig, deswegen setze ich mich so viel ich kann für die Bedürftigen ein, auch meine Freunde hier helfen mir sehr. Und euch danke ich vielmals, für eure tolle Hilfe!“
„Es war einfach toll helfen zu können, und auch die Show war toll! Das Essen war auch köstlich!“, meine ich zu unserem Gastgeber, „Und nächstes Jahr werden wir mit Sicherheit auch wieder dabei sein. Auch sonst könnt ihr immer mit meiner Hilfe rechnen!“
Diese wunderbare und ungewöhnliche Weihnachtszeit werde ich ganz sicher nie wieder vergessen!
Ich drücke den eisigen Knopf der Klingel. Nach einer gefühlten Ewigkeit in der Kälte öffnet mir endlich jemand die Tür.
„Komm doch rein, setz dich zu uns und trink erstmal nen Kakao. Karl is nicht mehr lange hier, danach können wir über deine Probleme reden“, grüßt Julia mich. Meine Probleme. Jetzt überkommt mich wieder dieses schwere Gefühl und ich muss schlucken.
Lustlos nippe ich an meinem Kakao, während wir über belanglose Dinge reden. Ob mir Julia wirklich helfen kann? Wie auch immer, ich muss erst mal warten bis Karl weg ist. Nicht, dass ich ihn nicht mag, aber wir kennen uns nicht so gut, und da wäre es mir doch arg unangenehm mich vor ihm seelisch zu entblößen.
Nach gefühlten Stunden ist er endlich auf dem Heimweg.
Ich drück mich fest an Julia, während ich versuche ihr die Sache zu erklären: „Wie du mitbekommen hast, hatte Mika nach den Sommerferien nur sehr selten Zeit. Das letzte Mal habe ich ihn in den Herbstferien gesehen. Entweder war es die Schule, die Familie oder seine Freunde. Manchmal habe ich das Gefühl, er hätte mich vergessen…“ ich kann mich nicht mehr zurückhalten. Unter Tränen erzähle ich weiter, „dabei vermisse ihn so sehr. Ich würde nichts lieber tun als ihn einfach nur im Arm zu halten und nah bei ihm zu sein.“
Nach diesen Worten wird aus den Tränen ein jämmerliches Heulen. Julia legt ihre Arme um mich. „Er wird dich nicht vergessen haben, das glaube ich nicht.“
„Vielleicht will er mich ja vergessen? Seit Anfang November postet er auf Instagram immer Bilder auf denen dieser Junge mit drauf ist. Der sieht gar nicht mal so schlecht aus… Bestimmt läuft da etwas zwischen denen.“
Julia entgegnet ungewohnt sanft: „Er hat mit dir doch einen wunderbaren Menschen. Außerdem ist er viel zu verliebt in dich um dir das antun zu können. Außerdem scheint er zu gut zu sein, um fremdzugehen.“
„Ich weiß es ja selbst, dass ich ihm voll und ganz vertrauen kann, dass er viel zu rein und unschuldig ist um mich zu verletzen, dass seine Liebe ehrlich ist. Selbst wenn er mich nicht mehr lieben würde, könnte er sich nicht trennen, weil er mir nicht wehtun will. Meinst du, ich bin nicht gut genug für ihn? Er ist so lieb, lustig, hilfsbereit, gutmütig, sanft und unschuldig. Beinahe zu naiv für diese Welt. Sein Charakter ist einmalig und ungewöhnlich. Und er sieht unglaublich gut aus, niedlich, sexy und hübsch. Er ist einfach zu perfekt. Deswegen mache ich mir ja Sorgen. Jemand wie er muss so beliebt sein, da kann er jeden haben den er will!“
„Und doch hat er sich für dich entschieden, denn du bist auch toll! Du bist auch lustig, gutherzig, freundlich, hübsch und hast coole Hobbies. Außerdem hast du ja selbst gesagt, dass er aus so vielen Gründen sowas niemals machen würde.“
„Ja. Er könnte das wirklich nie. Danke. Ich weiß es ja, aber ich kann einfach nicht anders, ich schäme mich so sehr, dass ich eifersüchtig bin, obwohl es keinen Grund dafür gibt. Und für die fiesen und unwahrscheinlichen Unterstellungen hasse ich mich selbst.“
Wenn es mir schlecht geht, weil ich ihn vermisse ist es eine Sache, was mir aber letztendlich das Herz bricht ist das Wissen, dass ich ihm mit meiner Eifersucht absolut unrecht tue.
Jetzt scheint Julia böse zu sein: „Du darfst dich nicht hassen. Weder dafür noch für deine Gefühle. Wenn man so richtig verliebt ist, ist man anfangs noch eifersüchtig, das ist absolut normal. Aber gebe diesen bösen, falschen Gedanken nicht nach, sie sind falsch! Und wenn Mika dich doch verletzt, was er niemals tun würde und auch nicht getan hat, dann sorge ich dafür, dass er nie wieder aufstehen kann!“
Jetzt muss ich lachen. „Du bist eine wunderbare Freundin, wenn auch manchmal etwas brutal, aber ich mag dich. Danke für deine lieben Worte. Und danke, dafür, dass du dir mein Geheule anhörst.“
Ich bin zwar immer noch nicht hundertprozentig sicher und glücklich, aber dennoch hat mir das Gespräch sehr geholfen.
Auch wenn es mir ein wenig besser gehen sollte, so war der heutige Tag eine Qual. Die Kälte im Klassenzimmer und das graue Wetter setzten meiner Laune zu. Endlich bin ich zuhause. Gerade, als ich mich auf das Bett fallen lasse klingelt mein Smartphone.
Mika ruft an!
Sofort nehme ich ab: „Leon, ja?“
„Hier… ist…Mika…“, höre ich es schluchzen.
„Was ist los?“, rufe ich entsetzt in das Handy, doch Mika weint nur noch lauter.
Dann, endlich schafft er es dazwischen zu sprechen: „Es…es tut mir so leid… Ich wollte nicht…, dass du so leidest…Ich vermisse dich unglaublich! …Julia hat mir alles geschrieben…Ich… meine Familie…wir hatten einen Austauschschüler aus Schottland da. Er ist hetero und vergeben… außerdem bist du der Einzige für mich! … Ich hätte dir mehr vertrauen sollen… Aber ich hatte Angst, dass du eifersüchtig wirst… mich nicht mehr magst… man kennt ja die ganzen billigen Austauschschüler-Romanzen… Hätte ich dir von ihm verraten… dann wäre es nie so weit gekommen… es tut mir so leid… Bitte verzeih mir!… Aber nur wenn du es auch willst…“
„Schon gut, Mika…“, flenn ich in den Hörer, „Natürlich verzeih ich dir… kannst du mir die bösen und… unwahrscheinlichen Anschuldigungen verzeihen? Ich weiß doch, dass du so etwas nie machen würdest…“
„Ich… verzeih…dir“, schnieft mein geliebter ins Telefon.
„Nächstes mal kommst du direkt vorbei, Schatz. Dann kann ich dich in den Arm nehmen, streicheln und trösten. Ich will nicht, dass du wegen mir traurig bist. Ich bin so scheiße!“
„Hör auf! Du bist nicht scheiße, du bist nur sehr verliebt! Und das ist irgendwie süß! Toxisch, aber auch süß! Ich würde zu gern liebevoll von dir getröstet werden. Wann kannst du? Egal wann, ich komme!“
Das Gespräch mit Mika hat mich unglaublich glücklich gemacht. Wenn nicht mein schlechtes Gewissen wäre, dann wäre ich jetzt der glücklichste Mensch der Welt! Ich habe am Samstag ein Date auf dem Weihnachtsmarkt mit meinem geliebten Schatz!
Es ist Freitagabend und ich bin schon so aufgeregt! Wenn Mika nur wüsste, was ich mit ihm geplant habe! Dank Julias und Karls Hilfe kann das Wochenende nur grandios werden!
„Hast du schon ein Geschenk für Mika?“ Mit diesen Worten reißt Julia mich aus meinen Gedanken.
„Wer ist denn Mika?“, fragt mich Christian. Ausgerechnet Christian, der Macho. Bei seiner Einstellung braucht der gar nicht wissen, dass ich mit einem Jungen zusammen bin. Und auch sonst möchte ich das noch nicht an die große Glocke hängen.
„Hörst du nie zu? Das ist sein Neffe, das Baby von seinem Bruder. Das hat er doch in der Schule gesagt…“, keift Tobi Christian an. „Das istn Männername? Wie öde. Ich habe auf heiße Sexgeschichten mit Leons Freundin gehofft.“
„Du denkst natürlich wieder nur an Sex. Das ist total widerlich. Wir Mädchen haben viel mehr zu bieten. Charakter und so. Als ob wir nur aus Arsch und Titten bestehen würden!“, mischt sich jetzt auch noch Leonie ein. Der Gedanke bringt mich zum Schmunzeln.
„Das Thema wollt‘ ich jetzt eigentlich nicht lostreten. Hört bitte auf zu streiten“, zetert Julia, „Nächstes Mal komm ich nicht mit, wenn die Klasse trinken geht.“
„Wie schade. Dann bleibt ja nur noch Leon von unserer Gruppe,“ meint Noah, „Sandra kann ja eh nie…“
Und damit hat er auch recht. Wobei er selbst nicht viel häufiger Zeit hat, deswegen bin ich ja meist nur mit Julia unterwegs. Schade eigentlich. Wenn ich die Beiden öfters sehen würde, dann hätte ich ihnen endlich von Mika erzählen können. Bisher weiß das neben meiner Familie nur Julia. „Dann müssen sich die Anderen aus der Klasse eben benehmen. Dann ist das Problem auch gegessen.“
Nach und nach gehen meine Mitschüler nach Hause.
Ich würde gern auch gehen, aber ich muss noch auf Julia warten. „Trink mal dein Bier leer, außer uns ist nur noch Tobi da“. Tobi ist nur noch da, weil er Klassensprecher ist. So gut kennen wir ihn nicht, als dass er noch wegen uns da wäre.
„Das Kind meines Bruders ist eigentlich ein Mädchen, Claire heißt sie,“ korrigiere ich Tobi wegen vorhin.
„Ich weiß. Aber hätte Christian herausgefunden, dass du was mit einem Jungen hast, dann hätte er dich gemobbt.“
„Du weißt von Mika?“, entsetzt starre ich meinen Mitschüler an, „aber woher?“
„Ich habe euch im Sommer Hand in Hand herumlaufen gesehen. Man hat sofort gemerkt, dass ihr ein Paar seid. Ihr passt zusammen.“
„Vielen Dank. Könntest du es bitte für dich behalten, bis ich bereit bin, es von mir aus zu sagen?“
„Ich hätte keinen Grund darüber zu reden.“
Ein Glück! Der Abend hätte richtig in die Hose gehen können!
Ich stehe vor dem Kleiderschrank. Was zieh ich mir nur an? Es soll kalt werden, zu dünn darf es also nicht sein. Aber es muss schön sein, schließlich habe ich heute ein Date. Ich denke, ich nehme den Weihnachtspulli. Er ist zwar schrecklich kitschig und fast schon peinlich, aber Mama und Oma meinen, ich würde total süß darin aussehen. Und es kann ja nur von Vorteil sein, wenn Mika mich süß findet.
Zum sehr späten Frühstück gönne ich mir ein Stück Panettone und eine Tasse Spekulatius-Tee.
Es klingelt an der Tür. Schnell reiße ich sie auf. Doch weder Mika noch Julia stehen dort, stattdessen ist da Noah.
„Guten Tag, was machst du denn hier?“
„Hatten wir heute keinen Ausflug geplant? Julia meinte ihr würdet wegfahren und ich könnte mitkommen.“
„Davon hat sie mir nichts verraten, aber es ist schön, dass du auch mal wieder mitkommst.“
Während ich Noah hereinbitte packt mich plötzlich jemand von hinten.
Die Person umarmt mich fest von hinten und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Voller Freude rufe ich: „Mika! Ich habe dich so vermisst! Endlich habe ich dich wieder!“
Dabei drehe ich mich um und umarme ihn zurück.
„Das ist also Mika…“, bemerkt Noah verlegen. Ich spüre wie ich rot werde. Es ist unmöglich, dass Noah nicht bemerken könnte, dass Mika und ich mehr als nur Freunde sind.
Und schon wieder hat die liebevolle Begrüßung an der Tür uns verraten. Ich schicke die Beiden in mein Zimmer und hole den restlichen Tee und Panettone.
„Es ist… irgendwie unerwartet und ungewöhnlich, dass du mit einem Typen zusammen bist. Aber ihr scheint euch zu lieben, also ist das kein Problem. Das hättest du mir ruhig sagen können“, schmatzt Noah.
„Ich wollte es dir halt nicht einfach so sagen, denn es betrifft ja auch Mika. Dass du nicht so ein Arsch wie Christian bist, weiß ich ja.“
„Ich habe gar nicht daran gedacht, dass ich dich aus Versehen outen könnte, Leon. Das tut mir leid. Ich konnte dir einfach nicht widerstehen. Aber ich finde es schön, dass du mich dabeihaben wolltest, auch wenn ich …Noah?... nicht wirklich kenne.“
„Kein Problem“, meine ich, „ich will dich nicht verstecken. Wenn, dann müsste ich mit dir angeben! Und bisher gab es nur positive Reaktionen darauf… Was natürlich nicht immer der Fall sein wird.“
„Ich stehe voll hinter dir, Leon. Wenn jemand etwas Fieses über euch sagt, bekommt er Ärger mit mir. Und vor Julia muss er sich dann eh fürchten.“
„Wer muss sich vor mir fürchten, Noah?“
Irgendwie scheint Julia unbemerkt ins Haus gekommen zu sein.
„Na jeder, der über Leon und Mika lästert.“
„Das stimmt“, lachte meine beste Freundin, „Gestern Abend war ich kurz davor diesen Chris zusammenzuschlagen. Leonie hätte bestimmt mitgemacht. Diesen Arsch muss man endlich mal zur Vernunft prügeln!“
„Kommt ihr auch mal runter oder wollt ihr jetzt doch hierbleiben?“
„Wir kommen. Gedulde dich mal, Karl“, keift Julia während wir noch schnell unsere Jacken anziehen. Vor dem Haus sitzt Karl in seinem Auto.
„So groß ist Biberach doch gar nicht, wir können doch auch laufen“, meint Mika.
„Der Weihnachtsmarkt hier ist leider schon vorbei, aber wir fahren zu einem, der dich interessieren könnte,“ entgegnet Julia, während sie uns die Hintertür aufhält, „Auf der Fahrt dorthin habt ihr genug Zeit zum kuscheln.“
Kaum sitze ich im Auto kuschelt sich Mika tatsächlich an mich ran. Die enge Rückbank ist manchmal eben doch der perfekte Platz im Wagen!
Sanft streichle ich das zarte Haar meines Freundes.
Nach ungefähr eineinhalb Stunden erreichen wir Esslingen. Doch die Strecke ist nur die halbe Miete, denn an einem Adventssamstag einen bezahlbaren Parkplatz zu finden erweist sich als überaus schwierig.
Nachdem diese Hürde überwunden ist, stapfen wir durch die Stadt. Mehr als die Kälte friert mich das Knirschen des Schnees.
Der Duft von heißem Glühwein, Bratwurst und Waffeln weist uns den Weg zum Weihnachtsmarkt.
Die Vielfalt der Stände erschlägt mich fast. Es gibt so viel zu sehen! Neben den klassischen Essständen gibt es Speisen aus aller Welt, Kunsthandwerk wie Nussknacker & Räuchermännchen, Glaskugeln & -Eiszapfen, Metallarbeiten und Steinfiguren, Räucherware und Kräuter und so viel mehr! Klassisch beginnen wir den Bummel über den Weihnachtsmarkt mit einem heißen Glühwein und einer ebenso heißen Waffel. Und wie immer verbrenne ich mich an der Waffel! Der Glühwein hingegen schmeckt für seinen unverschämt teuren Preis von 4€ geradezu langweilig!
Bei einem Stand, der selbstgestrickte Socken, Schals und Mützen verkauft entdeckt Mika etwas, dass ihn interessiert. Er packt meine Hand und zieht mich zum Stand.
„Schau mal, was ich hier gesehen habe! Diese warme Wollmütze sieht aus wie eine superniedliche Kuh! Zieh sie dir mal an! Biiitte!“.
Wenn Mika mich so lieb anschaut, dann kann ich ihm diesen Wunsch unmöglich abschlagen, also ziehe ich das Ding an.
„Du siehst damit so süß aus, Leon! Die musst du dir kaufen!“
„Erst probierst du sie mal an, dir steht so etwas viel besser!“ Und in der Tat, zu Mikas niedlicher Art passt die Mütze wie die Faust aufs Auge!
„Sagte ich doch, sie steht dir“, meine ich und gebe ihm einen verliebten Kuss auf die Wange.
Die ältere Verkäuferin neigt sich aus ihrer Hütte zu uns. „Davon hätte ich auch eine zweite Mütze. Sie hat zwar braune Flecken und keinen um das Auge, aber die Hörner, Ohren und das freundliche Kuh-Gesicht sind gleich. Wenn ihr beide kauft, dann gewähre ich euch einen kleinen Rabatt“
Irgendwie hätte der Partnerlook etwas Romantisches, Verbindendes. Ohne einen weiteren Gedanken zu verlieren kaufe ich uns beide die Mützen. „Jetzt passt ihr noch besser zueinander“, grinst Noah uns zu. Wie aus Reflex nehme ich Mikas Hand.
Je weiter wir gehen desto schneller schlägt mein Herz. Wenn Mika nur wüsste, dass wir erst auf dem Adventsmarkt, und noch gar nicht auf dem Weihnachtsmarkt, der großen Überraschung für meinen Engel, angekommen sind…
Ehe wir uns versehen stehen wir inmitten von altertümlichen Buden, Gauklern und gewandeten Menschen.
Mit einem Freudenschrei fällt mir Mika um den Hals.
„Das ist ja ein Mittelalter-Weihnachtsmarkt! Wir sind extra hier her gekommen, weil ich Mittelaltermärkte liebe? Das ist so unglaublich süß und aufmerksam von dir!“, Tränen der Freude und Rührung laufen über sein Gesicht, „Ich hätte die letzten Wochen wirklich mehr Kontakt mit dir haben sollen. Es tut mir so leid. Ich habe jemanden so tollen wie dich niemals verdient.“
„Mika! Du bist einfach perfekt, wenn, dann habe ich dich nicht verdient. So wunderbar bist du!“.
Um meinen Worten Nachdruck zu verleihen küsse ich meinen Freund leidenschaftlich.
„Ekelhafte Drecksschwuchtel!“, grölt eine Gruppe Jugendlicher in unsere Richtung.
„Wenn jemand verrecken soll dann ihr! Wertlose Asoziale wie ihr vergiften unsere Gesellschaft!“, schreit eine andere Person aus der Menge. Mit bestimmtem Schritt tritt ein seltsamer Typ aus der Masse. Er trägt lange, spitze Stiefeletten, einen langen, schwarzen Mantel mit pelzbesetztem Cape, blass und düster geschminktem Gesicht und hochtoupierten Haaren.
„Wenn ich von euch noch einmal solch eine homophobe Äußerung höre, dann gibt es ernsthafte Konsequenzen!“, setzt er fort. Wie zur Verdeutlichung treten noch drei weitere seltsame Personen neben ihn.
„Hört auf meinen Freund zu beleidigen“, schrei ich.
„Mit uns allen könnt ihr euch nich anlegen. Aber versuchts nur, ich würde gern die Scheiße aus euch prügeln!“, schließt Julia sich an. Auch meine Freunde stehen hinter mir.
Nun in der Unterzahl ziehen sich die Assis zurück.
„Vielen Dank für deine Unterstützung. Ich hasse es, wenn man so mit meinem Mika umgeht“, meine ich zu dem Grufti, während ich meinen Engel wieder an mich heranziehe.
„Zivilcourage ist selbstverständlich. Außerdem kenne ich das Problem leider selbst. Wenn ich mit meinem geliebten Nathanael unterwegs bin“, dabei umarmte der Goth den Typen, der wie ein junger Gomez Addams ohne Bart aussah von hinten, „müssen wir uns selbst oft solche ekelhaften Dinge anhören. Dass wir nicht dem Mainstream angehören macht es nicht einfacher. Ich bin übrigens Vincent. Auch wenn ich gefährlich und düster aussehe, bin ich eigentlich ein lieber und gut gelaunter Mensch. Mit meinen Freunden verhält es sich genauso. Wie kommst du eigentlich darauf, dass dein Freund und nicht du gemeint bist?“
„Ganz einfach“, erkläre ich, „ich bin Hetero. Ich stehe eigentlich nur auf Frauen. Aber mein Mika hier ist so perfekt, sein Charakter ist einfach umwerfend, er sieht unglaublich gut aus, hat tolle Hobbies und ist einfach der tollste Mensch der Welt. Da ist es mir das Geschlecht total egal.“
Als er das gehört hat, wird Mikas Blick schwer und traurig. Vorsichtig löst er sich aus meiner Umarmung und ging hinter einen Stand. Irritiert starre ich auf die Stelle, an der er gerade noch stand. Dann rannte ich ihm hinterher. Mein geliebter Engel saß weinend auf einem Treppenaufgang.
„Was ist los? Habe ich irgendwas Falsches gesagt? Falls ja, tut es mir unglaublich leid. Ich will dich doch nicht verletzen. Ich liebe dich doch!“
„Das ist ja das Problem, Leon. Ich liebe dich ja auch. Aber wieder einmal ist mir klar geworden, dass unsere Beziehung keine Zukunft hat. Wie sehr ich auch mit der zusammenbleiben will, so werde ich doch älter. Und schon mit 30 verliere ich meine Androgynität, dann wirke ich rein maskulin. Und du bist ja eigentlich Hetero. Du… du könntest mich dann nicht mehr so lieben, wie du mich jetzt liebst. Nur aus reiner Freundschaft und Gutmütigkeit würdest du versuchen bei mir zu bleiben, bis es gar nicht mehr geht.“
„Ich gebe zu, darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Aber auch ich werde älter und damit unattraktiver. Das ist ganz normal. Aber man sieht ja an den ganzen älteren Ehepaaren, dass sich der Geschmack wohl mit dem Alter anpasst. Und außerdem hast du zwar einen verdammt scharfen und schönen Körper, aber noch attraktiver ist dein Stil und vor allem dein unglaublicher Charakter. Schlussendlich habe ich mich ja auch in ebendiese Dinge verliebt, und nicht in die, zugegebenermaßen perfekte, Hülle. Ich liebe DICH und dein Wesen, deine Art. Und das wird sich nie ändern. Außerdem glaube ich nicht, dass du mit dem Alter hässlich wirst. Deine innere Schönheit leuchtet so hell, sie wird immer nach außen strahlen und von deinem Äußeren widergespiegelt. Mach dir keine Sorgen, ich will aus Liebe mit dir zusammenbleiben. Für immer!“ Jetzt fließen auch bei mir die Tränen. Ich helfe Mika auf und drücke ihn fest an mich.
„Allein schon bei unserer schrägen Vorgeschichte hätte mir klar sein müssen, dass du nicht oberflächlich bist.“, entschuldigt sich mein Engel, „Aber solche Gedanken belasten einen einfach, da kann man nichts dagegen tun“.
Oh ja, ich weiß wie das ist, so ging es mir Anfang der Woche auch.
„Verzeiht mir, dass ich mitgehört habe“, kommentierte Nathanael, „aber ich war in Sorge. Aufgrund meiner Homosexualität hatte ich schon als Kind Depressionen. Daher musste ich euch unbedingt folgen. Du scheinst eine sehr interessante Person zu sein, Leon. Normalerweise leugnen Menschen ihre Homosexualität, weil sie Angst haben aufgrund dieser Ausgeschlossen, Gedemütigt oder gar körperlich Verletzt zu werden. Du aber zeigst deine Liebe zu deinem Freund in der Öffentlichkeit recht deutlich, du küsst ihn gar vor Allen. Und doch sagst du, du seist Hetero. Wie muss ich das verstehen?“
„Das ist schwer zu erklären, ich fand noch nie einen Jungen an sich attraktiv. Und die Vorstellung mit einer männlichen Person sexuell aktiv zu werden erregt größten Ekel in mir. Nur bei Mika kann ich mir das angenehm vorstellen. Selbst den Gedanken an seinen Penis finde ich… erregend. Aber dennoch stehe ich eigentlich nicht auf Männer. In ihn habe ich mich verliebt, als ich ihn noch für ein Mädchen gehalten habe. Nicht in echt, sondern in einem Videospiel,“ versuche ich das Verhältnis zwischen Mika und mir zu erklären. Wieso ich einem Fremden so persönliche Sachen erzähle, kann ich mir zwar nicht erklären, aber irgendwie fühlt es sich richtig an.
„Von Videospielen verstehe ich überhaupt nichts,“ meint Nathanael, „aber ich glaube zu verstehen, worauf du hinaus willst. Die romantische Liebe zwischen euch Beiden wirkt auf jeden Fall sehr stark. Und dass du ihn liebst, obwohl er ein Knabe ist, kann nur bedeuten, dass eure Liebe so echt und rein ist, dass sie auf ewig währen muss! Gib Acht auf deinen Mika so wie ich auf meinen Vincent Acht gebe. So tiefe Verbindungen sind äußerst selten. Genießt trotz dieses sehr negativen Zwischenfalls den Besuch dieser Festivität! Wir sollten nun unseres Weges gehen, bevor ihr noch weitere Pöbeleien ertragen müsst, da ihr euch mit recht auffälligen und ungewöhnlichen Personen abgibt. Au revoir!“
„Ach, das würde mir nichts ausmachen. Ich hätte zwar nie erwartet, dass ich mich mit Gothics abgebe, einfach weil ich nichts damit zu tun habe, aber ihr seid so freundlich, da wäre es schade einfach so wieder zu gehen. Und was die Anderen denken ist mir inzwischen echt egal. Mit Mika falle ich auch auf, selbst wenn wir nicht mal Händchen halten. Nur heute ist er so dick eingepackt, dass es nicht auffällt. Schade eigentlich, seine Nerdkleider sind meist so süß!
Außerdem glaube ich nicht, dass Vincent und deine anderen Freunde gehen wollen. Sie scheinen sich gut mit meinem Engel zu unterhalten!“
„Das freut mich doch sehr. Denn auch mir wäre es angenehm mit solch sympathischen Menschen wie euch Zeit zu verbringen. Und Vincent scheint sich bei dem Gespräch mit deinem Freund sichtlich wohl zu fühlen. Und wenn er glücklich ist, dann ist es mir mehr wert als alles andere.“
Diese Worte Nathanaels berühren etwas tief in mir. Auch mich macht es unglaublich glücklich, wenn ich Mika nur lächeln sehe, wenn ich weiß, dass er sich freut. Und ich weiß, dass auch Mika so fühlt. Schon wieder drängt mich etwas dazu ihm so nahe wie möglich zu sein.
„Worüber redet ihr denn?“, frage ich meinen Freund während ich mich ihm um den Hals werfe.
„Über die Mythen des Mittelalters und der Germanen und Kelten. Wusstest du zum Beispiel, dass die Hexenverfolgung aktiv erst im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit stattgefunden hat? Und dass der germanische Gott Loki sich in eine Stute verwandelt und mit einem Hengst das achtbeinige Pferd Sleipnir gezeugt hatte? Die Diskussion um die Marvel-Serie ist also absoluter Schwachsinn, wenn man bedenkt, dass Loki sich in der Mythologie öfters als weibliches Wesen ausgegeben hat. Seine ‚Genderfluidität‘ ist eben doch kein Trend, wie es die konservativen Idioten meinen. Und damit nehme ich Marvel in Schutz, obwohl ich DC bevorzuge.“
Das Glänzen in Mikas Augen, wenn er in seinem Element ist, ist so bezaubernd. Ich kann nicht aufhören ihn anzustarren. Plötzlich bemerke ich, wie nah ich seinem Gesicht gekommen bin. Ich spüre seine Wärme auf meinem Gesicht. Dieses Gefühl der Nähe ist so schön, dass ich es noch eine Weile genieße, bevor ich Mika endlich küsse.
„Ihr seid ein genauso traumhaftes Paar wie Vincent und Nathanael. Ich bin übrigens Neith. Und ja, das ist mein echter Name und kein Szenename. Wie man unschwer erkennen kann, bin ich Ägypterin“, stellt sich die Dame aus Vincents Gruppe vor. Sowohl die dunkle Haut als auch ihr Schmuck und Make-Up unterstreichen ihre Aussage. Nur die Kleidung ist nicht ägyptisch: Neith trägt einen fluffig-eleganten schwarzen Wintermantel, wahrscheinlich aus Wolle mit Kunstfell und hochhackige Leder-Overknees.
„Und ich bin Paul. Deine Freunde hier ham sich schon vorgestellt. Ich lieb eure Mützen, die sin voll cool!“. Jetzt weiß ich auch, wie der Punk aus der Gruppe heißt. Alles in allem scheinen diese Personen sehr sympathisch zu sein, obwohl sie sehr extrem aussehen.
Auch Nathanael hatte sich wieder zu der Gruppe gesellt. Gemeinsam mit den Anderen gehen wir von Stand zu Stand. Bei einem Schmuckhändler entdeckt Mika einen Ring mit einem Drachen, der sich um den Finger wickelt, aber auch die Triforce Ohrringe an einer langen goldenen Kette scheint ihm sehr zu gefallen. Mit dem Blick auf den Preis scheint Mikas Interesse an den Ohrringen verpufft zu sein. Den Ring holt er sich aber.
Auch die Anderen scheinen das ein oder andere Schmuckstück zu kaufen.
Heimlich schaue ich auf das Schild an den Ohrringen. Echtsilber, vergoldet. 50€. Ich schlucke. Aber für meinen Schatz ist es das Wert. Und aus dem Fernsehn weiß ich, dass man seinem Herzblatt Schmuck schenkt.
Und schon habe ich die Ohrringe gekauft.
Plötzlich höre ich ein Klatschen. Mit erhobener Hand schreit Neith einen Mann an: „Finger von meinem Hintern du abartiger Grabscher! Ich bin doch kein Freiwild!“
„Entschuldige dich gefälligst bei der Dame!“, keift Noah.
Widerwillig entschuldigt sich der Typ.
„Das passiert mir einfach zu oft“, seufzt Neith, „dabei muss ich nicht mal etwas Aufreizendes tragen wir Goth-… entschuldige Vincent, wir Frauen aus der schwarzen Szene werden von Stinos so oft sexualisiert und objektifiziert, dass es schon widerlich ist. Im Internet suchen die Typen aktiv düster-alternative Mädchen, nur wegen den Äußerlichkeiten und der Erwartung von wildem Sex. Aber wenn so einer dann mal eine verführt hat, dann muss sie sich ansonsten möglichst mainstreamig verhalten und wenn man gemeinsam unterwegs ist, sollte sie sich auch harmlos kleiden. Ekelhafte Sexisten!“
„Das ist ja wirklich ekelhaft. Ihr werdet zwar ausgeschlossen und beleidigt, weil ihr anders seid, aber wenn es darum geht seinen Fetisch zu befriedigen, dann sind Gothic-Frauen gut genug?! Traurig. Da schäme ich mich fast schon zu den ‚Normalen‘ zu gehören…“, kommentiere ich den Vorfall.
„So normal bist du auch wieder nicht, schließlich bist du ja mit einem schrägen Vogel wie mir zusammen!“
„Das stimmt, Mika. Du bist wirklich ungewöhnlich. Und das liebe ich so sehr an dir!“
„Ich denke nicht, dass alle ‚Normalen‘ so schlimm sind. Ich habe noch nie schlecht über Menschen gedacht, die anders sind.“, meint Noah, „Egal ob Sexualität, Hautfarbe, Behinderung oder eben Szene. Ich finde es sogar cool, wenn jemand sein eigenes Ding macht. Und grabschen oder objektifizieren finde ich eh widerlich.“
„Tatsächlich sind die wirklich erwachsenen meistens nett. Wenn‘s nicht gerade irgendwelche Perversen sind. Gut, manchmal schauen se komisch, aber sonst geht’s eigentlich. Solang ich nich schnorr oder bettel. Dann war ich natürlich wieder der ‚Dreckspunk‘. Unnützer Ballast. Aber unter den Jugendlichen gib’s viele Assis. Doch sogar manche Hiphopper sin voll korrekt! Aber deren Deutschrap. Bäh!
Und ihr seid auch ganz cool!“, stimmt Paul zu.
„Ne, mit den Hiphoppern haben wir nich so viel zu tun,“ meint Julia, „Ich find deren Sprache schlimm, und das sag ich als Jugendliche.“ Jetzt brechen wir in schallendes Gelächter aus.
Vorbei an Ständen mit Trinkhörnern, Krautschupfnudeln mit Speck, Schilden, Weihnachtskarten und heißem Met führt uns der Weg zur lebensgroßen Weihnachtspyramide.
Langsam versinkt die Sonne und der Weihnachtsmarkt verwandelt sich mehr und mehr in ein leuchtendes Winterwunderland. Die weihnachtliche Musik, die Düfte, das Tannengrün und die liebevolle Deko runden die romantische Atmosphäre ab. Es ist so schön diesen Tag mit meinen Freunden und vor allem mit meinem Geliebten zu verbringen!
Mit unserem heißen Kakao stehen Mika und ich ganz eng aneinander gekuschelt und genießen die Stimmung. Auch Julia & Karl und Nathanael & Vincent halten sich verliebt in ihren Armen. Derweil scheinen die anderen Drei in ein Gespräch vertieft zu sein.
Etwas Kaltes tropft auf meine Nase. Kurz darauf legt Mika seinen warmen Finger auf die Stelle. „Da war eine Schneeflocke. Wenn es jetzt richtig schneit, dann wäre die Weihnachtsstimmung perfekt! Und es wäre eine so romantische Kulisse für den Perfekten Kuss!“ Der perfekte Kuss? Erst süß und romantisch, dann saugend und zum Schluss erotisch mit Zunge oder was meint er damit? Auf jeden Fall kann ich es jetzt nicht mehr abwarten, dass das Schneegestöber endlich richtig beginnt!
Ein paar Meter weiter finden wir ein skurriles Mini-Riesenrad, dass von Hand betrieben wird.
„Wie schade, dass nur Kinder damit fahren dürfen!“, meint Vincent.
„Ich wäre gern mitgefahren!“, grinst Mika. Auch wir anderen stimmen den beiden zu. Ich liebe Fahrgeschäfte!
„Ich habe dort vorne ein schönes, altes Karussell gesehen, da saßen Menschen jeder Altersklasse drauf. Eigentlich wollte ich vorhin schon unbedingt mitfahren, aber ihr wart so in euer Gespräch vertieft“, weist Neith uns hin, „fast hätte ich euch verloren, ich war wie hypnotisiert!“ Dann greift sie Paul und Noah an der Hand und zerrt sie zügig zu der Attraktion. Auch wir rennen hinterher.
Über eine Treppe erreichen wir die zweite Etage des Karussells. Liebevoll hievt Vincent seinen Freund auf das Karussell-Pferd. Diese romantische Geste finde ich schön, das würde ich mit Mika auch gern machen! Doch während ich meinem Engel aufhelfe grabsche ich ihm so richtig an seinen heißen Arsch. Knallrot entschuldige ich mich bei ihm.
„Das ist doch nicht schlimm, Leon. Wenn du mir dorthin fasst ist es irgendwie schön.“
Grinsend steige ich auf das Pferd neben Mika. Noch ehe ich richtig sitze setzt sich das Karussell schon in Bewegung. Mein Freund streckt mir seine Hand entgegen, die ich sofort ergreife. Karussell fahren macht an sich ja schon sehr viel Spaß, aber wenn man dann noch mit seinem Geliebten Händchen hält… Das ist ein einmaliges Erlebnis, dass man so schnell nicht vergisst.
Nachdem wir das Karussell verlassen haben begutachten wir es noch eine Weile. Vor allem Neith scheint davon fasziniert zu sein.
„Wie gern hätte auch ich eines dieser Karussell-Pferde in meiner Wohnung! Diese Holzfiguren sind so filigran gearbeitet! Es gibt sogar diese ‚Wiegen‘ und Mini-Karussells! Und habt ihr das Pferd auf dem Dach gesehen? Und die schönen Bildtafeln oben! So charmant! Und es versprüht den Stil und die Atmosphäre eines klassischen Karussells! Ich liebe klassische Karussells!“
Inzwischen haben sich die einzelnen Schneeflocken schon so sehr vermehrt, dass man sagen könnte: „Es schneit.“
Mika schlingt seine Arme um mich und blickt mich mit seinen leuchtend blauen Augen an. Dann legt er sanft seine Lippen auf meine. Erst küsst er mich verliebt und schüchtern wie bei unserem ersten Kuss. Nachdem wir das voll ausgekostet haben beginnt er mit seinen Lippen an meinen zu spielen, erst vorsichtig und dann immer wilder, bis er mit seiner Zunge vorsichtig in meinen Mund eindringt und sie an meiner reibt. Voller begehren lasse ich eine meiner Hände über seinen Rücken hinunter zu seinem wohlgeformten Hinterteil gleiten. Im Hintergrund höre ich Nathanael zu Vincent flüstern, dass es jetzt die richtige Gelegenheit wäre es uns gleich zu tun. Danach vernehme ich das Schmatzen eines leidenschaftlichen Kusses.
Nachdem Mika und ich unseren Kuss gelöst haben sehe ich die Beiden noch immer eng in sich verschlungen. Dabei hat Nathanael ein Bein um seinen Vincent gelegt. Für seine gehobene Ausdrucksweise ist Nathanael sehr munter und anhänglich, ja, in dieser Hinsicht erinnert er mich irgendwie an meinen Schatz!
Jetzt wäre der perfekte Moment, Mika das Geschenk zu geben. Also streichle ich sanft seine warme Wange und streife ihm sein Haar hinter das Ohr. Dann nehme ich ihm seinen Ohrring heraus und stecke ihm den ‚Zelda‘ Ohrring an. Er schmeichelt Mikas androgyner Art!
Mit einem Blick auf sein Smartphone sieht mein Engel den Schmuck.
„Du hast mir den Ohrring gekauft, obwohl er so teuer ist? Das ist so unglaublich süß! Das musst du wirklich nicht machen! Versteh mich nicht falsch, ich freue mich total darüber und werden ihn sicher nicht mehr hergeben, aber du musst wirklich keine teuren Geschenke für mich kaufen! Ich liebe dich auch so!“
„Ich weiß, aber ich dachte, er gefällt dir.“, entgegne ich, „Wenn ich dir damit eine Freude machen kann, dann ist mir das Geld egal! Und ich sehe wie sehr du strahlst! Du musst mir auch gar nichts schenken, das Leuchten in deinen Augen ist…“, noch ehe ich fertig gesprochen habe springt mir mein Mika um den Hals, „du bist so perfekt!“, raunt er mir ins Ohr.
Gerade als wir uns auf den Heimweg machen wollen, hält Nathanael uns auf.
„Bevor ihr euch auf den Heimweg begebt möchte ich euch noch dazu anhalten einen heißen Met mit uns zu trinken. Ich gebe ihn aus!“
Und so stellen wir uns noch einmal mit unseren neu gefundenen Freunden an einen Holztisch, Tauschen unsere Kontaktdaten für Social Media aus und trinken den Honigwein.
Beim ersten Schluck schmeckt es noch sonderbar, aber schon beim Zweiten gefällt mir das Aroma. Nur Julia scheint es nicht zu schmecken. Aber aus Dankbarkeit trinkt sie mit verzogener Miene weiter.
„Hier scheint es wohl einen Mitmach-Zirkus zu geben“, meint Neith, „Zumindest habe ich jemanden darüber reden gehört. Ich wäre da echt gern noch hin gegangen, aber inzwischen wird der fertig sein. Schade.“
„Du magst Zirkus?“, fragt Noah, „Ich liebe Zirkus! Früher als Kind war einmal so ein Mitmach-Zirkus bei uns in der Grundschule! Das hat mir damals so gefallen, dass ich zum Turnen gegangen bin. Und auch heute mache ich das noch…“, plötzlich hört er auf zu reden und läuft rot an, „Ich äh… also… ihr wusstet ja, dass ich oft keine Zeit habe. Ich bin in einem Turnverein. Das ist mir jetzt peinlich. Ihr denkt bestimmt, dass das voll der Mädchensport ist und so…“
„Ach deswegen bist du so muskulös! Ich dachte immer du gehst pumpen. Wenn es dir spaß macht, dann machs einfach! Aber dass du uns nicht vertraut hast und es nicht verraten hast!“, schimpft Julia.
„Das ist so cool!“, meint Neith begeistert, „Welche Disziplin turnst du?“
„Ich habe eigentlich schon die meisten Disziplinen ausprobiert. Am liebsten habe ich aber Barren und Reck.
„Das habe ich auch mal gemacht, dann habe ich mich aber auf die Ringe spezialisiert. Inzwischen fehlt mir einfach die Zeit. Jetzt ich dafür einen Aerial Hoop-Kurs in einem Poledance-Studio angefangen. Und nein, das ist kein Stripclub. Wobei ich das auch gerne mal lernen würde. Aber zurück zum Thema. Wie lange machst du das schon? Wie viel Erfahrung hast du? Gehst du auch zu Turnieren?“
„Aerial Hoop? Da werde ich glatt neidisch! Hm… damals war ich sieben, jetzt bin ich 17… das sind also 10 Jahre. Dementsprechend habe ich schon ein wenig Erfahrung, auf Tournieren war ich auch schon. Goldmedaillen habe ich aber leider nicht so viele, gerade mal zwei, und drei Mal Silber.“
„Du scheinst den Sport so sehr zu lieben, aber du hattest trotzdem Angst, dass wir dich nicht mehr ernst nehmen? Dabei sind wir doch Freunde! Aber ich hätte wahrscheinlich genau so gehandelt. Beim nächsten Turnier feuern wir dich an, dann wirst du auf jeden Fall Gold holen!“
„Jetzt wisst ihr ja von meinem ‚geheimen‘ Hobby. Wenn ich offen damit umgehe bin ich bestimmt weniger verkrampft und kann daher bessere Ergebnisse erzielen!“
Bis wir die Tassen leer haben sprechen wir noch über die Zirkus- und Akrobatik Vorlieben unserer Freunde. Dann aber gehen wir wirklich.
„In welche Richtung müsst ihr überhaupt? Wir haben daaa vorne geparkt“, meint Neith während sie weit in die Ferne zeigt.
„Das ist auch unsere Richtung“, antworte ich. So können wir doch noch ein Stück mit unseren neuen Freunden gehen.
In einer Seitenstraße kauert ein Obdachloser frierend auf dem Boden. Wie gerne würde ich ihm helfen, ein wenig Geld oder zumindest eine Decke geben. Aber mein letztes Geld ist für die Ohrringe draufgegangen, das Bisschen Münzgeld, dass ich noch hatte, habe ich in eine Spendenbüchse geworfen.
Mika geht sofort auf den Mann zu, grüßt freundlich und drückt ihm seinen Schal in die Hand. Dankend nimmt der Bettler die Spende an.
„Ich weiß wie du dich fühlst,“ meint Paul, „Niemand hilft dir, du wirst beleidigt, alle hassen dich. Und arbeiten gehn kannste auch nich. Viel hab ich nich, aber nimm die Handschuhe und n paar Euro.“
Nathanael greift in seinen Geldbeutel und holt ein Paar birnengelbe Scheine heraus. Diese steckt er dem Obdachlosen zu. „Ich gebe dir 400€, mehr habe ich leider nicht dabei. Das mag zwar viel erscheinen, doch ist das Geld schnell ausgegeben, und eine sichere Zukunft kannst du dir damit leider auch nicht kaufen, aber du kannst zumindest etwas vernünftiges zu Essen holen und ein paar warme Klamotten. Versuch dich bitte an die Obdachlosenheime oder so zu wenden. Ich weiß, dort ist es nicht immer angenehm, es wird viel geklaut, es riecht unangenehm, und manche Heime wirken eher wie Gefängnisse, aber zumindest ist es dort warm, trocken und halbwegs sicher.“
Der Obdachlose starrt Nathanael genauso perplex an, wie ich. Hat dieser Junge dem Bedürftigen ernsthaft 400€ gegeben?!
Vincent lacht: „Mein Nathanael ist sehr reich. Geld ist für ihn Mittel zum Zweck. Und er sieht den ‚Guten Zweck‘ als besten Zweck an. Damit hat er ja auch recht. Zuhause tut er viel für die Bedürftigen. So unterstützt er unter anderem eine Notunterkunft, damit diese möglichst human und angemessen ist. Am 2. Weihnachtsfeiertag veranstaltet er eine kleine Gala für all jene, denen es nicht so gut geht. Ihr seid auch eingeladen. Wenn ihr wollt, dürft ihr uns dann auch gerne helfen!“
„Aber gerne doch.“, rufe ich begeistert, „Was meint ihr?“: meine Freunde nicken alle zustimmend. Eine Weile sprechen wir noch mit dem Obdachlosen. Man merkt ihm an, dass er sich nicht nur über das Geld, sondern auch das freundliche Gespräch freut. Immer mehr erkenne ich, dass viele Obdachlose eben nicht diesen Weg gewählt haben. Oft sind es Menschen, von denen sich die Familie abgewandt hatte, als es ihnen schlecht ging, und sie nur noch im Alkohol Trost finden konnten. Traumatisierte Menschen, die keine Arbeit annehmen können, Menschen, die die Gesellschaft einfach auf die Straße gesetzt hat. Und bei weitem nicht jeder Obdachlose trinkt oder nimmt Drogen. Ich habe das Gefühl, dass dieses Gespräch mich noch länger beschäftigen wird.
Der Wagen von Vincent und seinen Begleitern entspricht beinahe dem Klischee: Es ist ein 20er Jahre Leichenwagen, bei dem eine weitere Sitzbank auf die Ladefläche montiert wurde. Dieses Gefährt wirkt wie eine Kreuzung aus einem Leichenwagen und einer schicken, alten Kutsche; ein Mausoleum auf Rädern. Bevor wir weitergehen machen wir noch ein Gruppenselfie vor dem Auto.
Schon wieder stehe ich vor dem Kleiderschrank und weiß nicht, was ich tragen soll. So viel elegantes habe ich doch gar nicht! Also ziehe ich mir halt einfach meine schwarze Stoffhose und das einzige einfarbige Hemd an, das ich habe. Und wenn es halt mintgrün ist! Von meinem Vater bekomme ich dann noch eine passende, dunkelgrüne Krawatte. Da ich kein Sakko habe schmeiß ich mir die schlichteste Jacke über, die ich finden kann. Schwarze Leder-Halbschuhe habe ich zum Glück auch noch. Danach gehe ich raus. Und keine Sekunde zu früh, denn Julia und Karl kommen gerade angefahren.
Auf dem Weg zur Gala gabeln wir zuerst Noah und dann noch Mika auf. Er sieht heute so unglaublich gut aus! Neben der eleganten Frisur trägt er noch etwas goldenes Make-Up auf den Augen, die er mit etwas Goldglitzer verlängert hat. Das steht ihm! Und dabei wirkt er trotzdem nicht tuntig. Seine Kleidung ist unter einem Mantel versteckt, aber bei meinem Engel erwarte ich etwas Besonderes!
Kaum ist er eingestiegen drückt Mika mir ein Bündel Kleider entgegen. Dann umarmt er mich und gibt mir ein Küsschen.
„Du meintest mal, dass du noch gar keinen Anzug oder so besitzt, deswegen habe ich dir hier etwas dabei. Das kannst du nachher ja anziehen. Das ist nur ein Gehrock und eine Weste, nichts all zu besonderes. Aber das war das Einzige, was ich in deiner Größe finden konnte.“
„Danke! Das ist so süß von dir! Ich hätte sonst nur ein Hemd mit Krawatte an.“
So schlicht sind die Kleider doch gar nicht!“, meine ich zu Mika nachdem ich die Jacke an der Garderobe abgelegt und Weste und Gehrock angelegt habe. Neben einem Kragen hat die Weste auch noch goldene Stickereien und hat am Brustbereich noch zusätzliche Stoff wie an einem Trenchcoat. Der Gehrock hingegen ist zwar schlicht, aber keineswegs alltäglich.
Mit einem Blick auf Mikas Garderobe weiß ich sofort, was er damit gemeint hat: Er trägt eine wollene marineblaue Nadelstreifenhose, dazu Lackschuhe und obenrum ein weißes Hemd mit einer schicken Weste und einer blauen Schleife und dazu einen dunkelblauen Samtfrack! Bei genauerem Betrachten erkennt man auf dem Rücken des Fracks ein Art-Deco-Muster.
„Ja,“ grinst Mika, „das ist der Frack von ‚Jiminy Cricket‘ aus dem neuen ‚Pinocchio‘-Film von Disney. Es hat mich Tage gekostet, die meiste Zeit habe ich für das Muster gebraucht. Und da ich mit richtigem Samt gearbeitet habe, durfte ich keinen Fehler machen. Das Zeug ist gar nicht so billig! Und deine Weste habe ich mal für ein ‚Oz Vessalius‘ Cosplay genäht. Das ist der Hauptcharakter aus dem Anime ‚Pandora Hearts‘. Leider ist mir das Stück etwas zu groß geraten, du kannst die Weste also gerne behalten. Den Gehrock habe ich vom Theaterflohmarkt. Der ist mir auch ein wenig zu groß. Du darfst den natürlich auch behalten.“
„Das kann ich nicht annehmen“
„Leon, Schatz, das ist ein Geschenk. Du hast mir ja auch die Ohrringe und die süße Kuh-Mütze geschenkt!“
„Danke!“, raune ich Mika zu, bevor ich ihm einen kleinen Kuss auf die Wange gebe.
„Schön, dass ihr schon so früh da seid!“, grüßt uns Vincent.
„Nun ja, wir wollten unbedingt so früh wie möglich da sein, damit wir viel helfen können. Ich habe mich letztens eh total unnütz gefühlt, weil ich nichts für den Obdachlosen machen konnte.“
„Sag doch sowas nicht, schließlich hast du mit ihm geredet. Neben den physischen Grundbedürfnissen sind Zuwendung und im allgemeinen Gespräche überlebenswichtig. Und das sage ich nicht nur so. Es gibt Studien, die das belegen. Und im Allgemeinen ist es auch für die Psyche und das Wohlbefinden eine Wohltat mit netten Menschen eine Unterhaltung zu führen! Im Übrigen seht ihr sehr schick aus!“
„Danke, du aber auch! Das transparente Hemd passt gut zu der Strass-besetzten Weste! Und die feinen Stickereien… das ist eindeutig Handarbeit!“, schwärmt Mika.
„Merci Beaucoup! Die Weste habe ich tatsächlich selbst bearbeitet, sie komplett zu Nähen hätte ich wahrscheinlich nicht geschafft.
Wir sollten jetzt zu Nathanael und den Anderen gehen. Wollten Julia, Karl und Noah nicht auch noch kommen?“
„Ja, sie sind mit uns hierhergefahren, aber sie müssen wohl noch etwas abholen.“
„Das freut mich! Es ist schön euch alle mal wieder zu sehen.“
Vincent führt uns durch die Gänge des riesigen, verwitterten Anwesens. Interessant an der Gestaltung ist, dass der alte Glanz und die Eleganz wieder hergestellt wurden, der Zerfall und die Spinnenweben aber beibehalten wurden. Ich fühle mich fast wie am Set von der ‚Geistervilla‘. Das flüstere ich auch Mika zu.
„Wenn, dann eher ‚Haunted Mansion Holiday‘, die Weihnachtsversion der Disneyland Attraktion, auf der der Film basiert. Aber ja, dieser ‚Geisterhaus‘-Stil ist beabsichtigt“, korrigiert mich Vincent.
Bei genauerem Hinschauen entdecke ich zwischen der klassischen antiken Weihnachtsdeko Knochen, Fledermäuse, Schädel, Spinnen und andere makabre Dekorationen. Auch ein paar weihnachtlich-düstere Gemälde sind an den Wänden: Krampusse, Knecht Ruprecht, die Yule-Wesen, die Geister aus der ‚Christmas Carol‘, der Yeti, die Abtei im Eichwald und Szenen aus den Tim Burton Filmen ‚Nightmare before Christmas‘ und ‚Batman Returns‘ und noch viele weitere schauerliche Weihnachts- und Winterszenen.
In der Küche ist Nathanael gerade dabei eine ganze Schar Menschen, darunter auch Paul und Neith, einzuweisen.
„Die anderen sind Ehrenamtliche. Ohne denen würde dieses Projekt niemals laufen“, flüstert Vincent uns zu.
Mika und ich sollen die Requisiten und Kulissen der Bühne schleppen und vorbereiten. Das ist ein riesen Aufwand, da ein Großteil der Objekte noch in der Abstellkammer neben dem Eingang verstaut ist. Und für eine einzige Show wird ganz schön viel Material benötigt, was ich nie gedacht hätte.
Nachdem wir damit fertig sind helfen wir noch beim Bestuhlen.
In der Zwischenzeit sind auch Julia und co. wieder da. In ihrem dunkelblauen Abendkleid mit den funkelnden Steinen sieht sie aus wie ein Sternenhimmel, einfach unglaublich schön. Der weite Ausschnitt am Rücken ist zudem ziemlich scharf! Die beiden Jungen hingegen tragen einen einfachen Anzug.
Endlich ist es so weit und die Gäste; Bedürftige aller Art, von Sozialpassempfängern bis hin zu Obdachlosen, treten ein.
Nachdem wir jedem ein Glas Champagner oder Perrier Menthe, ein französischer Sprudel mit Minzgeschmack, gegeben haben sollen auch wir ein Glas nehmen. Karl als Fahrer möchte ablehnen, doch Nathanael bleibt aufdringlich: „Ihr wisst schon, dass ihr hier übernachten werdet? Wir haben genug freie Zimmer, dieses Anwesen ist doch recht groß, so viele der Obdachlosen haben sich gar nicht zum Übernachten angemeldet. So viele direkt aus dieser Stadt sind es nicht, und der Rest wird mit dem Bus in ihre Städte zurückgefahren.“
„D…Danke für das tolle Angebot. Aber dann wäre es ja so, als ob wir für unsere Hilfe bezahlt werden würden. Das wäre falsch.“, entgegne ich.
„Nein!“, widerspricht mir Vincent, „Ihr wart ja eingeladen ungeachtet dessen, ob ihr helft oder nicht. Damit sind diese beiden Angelegenheiten strickt zu trennen! Als unsere Freunde seid ihr Gast, als Helfer seid ihr Ehrenamtliche. Wir würden uns sehr freuen, wenn ihr danach noch bleibt! Ihr dürft auch beim Frühstück helfen.“
„Also gut, dann nehmen wir das Angebot an. Aber dafür helfen wir auch morgen beim Aufräumen!“
Wenige Minuten später finden wir uns an dem Tisch für die besonderen Gäste wieder. Der Vorhang öffnet sich und ein großer, gedeckter Tisch kommt zum Vorschein. Darauf steht ein als Kerzenständer verkleideter Mensch. Neben ihm steht eine übergroße Teekanne. Ein wenig weiter hinten in der Kulisse steht eine große Standuhr mit Gesicht.
Mit welchem Lied die Show eröffnet wird kann ich mir schon denken: ‚Sei hier Gast‘ aus ‚Die Schöne und das Biest‘. Nach dieser Nummer kommt die Begrüßung durch Nathanael in einem roten Frack und Zylinder. Dieser Rede folgt das Amuse-Bouche, eine Auster Rockefeller.
Bei der nächsten Nummer steht ein Clown der Hilfsorganisation ‚Clowns ohne Grenzen‘ auf der Bühne. Normalerweise spielen die Mitglieder dieser Organisation in Krisengebieten um den Bedürftigen dort ein Lächeln zu schenken, ihnen Herzlichkeit zu spenden und sie von ihrem Alltag abzulenken. Sie geben diesen Menschen damit ein schönes Erlebnis, dass sie festhalten und von dem sie zehren könne.
Danach können wir Vincent höchstselbst als Illusionisten, als Bühnenmagier sehen. Passend zu ihm sind seine Tricks sehr mystisch und makaber angelegt, so ist bei der ‚Zersägten Jungfrau‘ Kunstblut im Spiel, es werden die Geister der Weihnacht ‚beschworen‘ und Ähnliches.
Die Ehrenamtler Verteilen die Salatvariation.
Zu einer orientalisch klingenden Version von ‚We Three Kings‘ performen Neith und ihre Schwester eine erotische Bauchtanznummer. Bei jedem Schwung der Hüfte sieht man die Münzen am BH auf den Wohlgeformten Bauch fallen.
Während des Applauses wird der erste Hauptgang, Katsuo no Tataki, ein japanisches Bonito-Fischgericht, gereicht.
Weitere Nummern folgen, unter anderem ein Steppsolo von Nathanael, eine Feuerkünstlerin, eine Aerial Hoop Performance von Neith und eine Kampfsportchoreographie von Julia und Karl.
Während Paul eine kurze Rede zum Thema Armut und Hilfsorganisationen hält, wird der zweite Hauptgang, ein saftiges Roastbeef mit Herzoginnenkartoffeln, serviert.
Nun ist es an der Zeit für unseren großen Auftritt. Momentan führt die örtliche Tanzschule noch Auszüge aus dem Nussknacker auf. Ich helfe Mika dabei den bestickten transparent-blauen Umhang anzuziehen. Dann stimme ich den elektrischen Bass.
Während der Bauchredner vor dem Vorhang seine Nummer vorträgt wird hinter den Kulissen kräftig umgeräumt: Ein hellblauer, fast weißer Vorhang begrenzt die Bühne nach hinten, ein paar Plexiglas-Möbel werden auf die Bühne gestellt und von der Decke werden Eiskristall-Elemente heruntergelassen.
Ich gehe in Position. Dieses Mal gibt es keine Ansage vom Conférencier, da dieser mit uns auf der Bühne spielen wird. Das Licht geht aus. Der Vorhang öffnet sich. Die Scheinwerfer tauchen die Bühne in ein sanftes, blaues Licht. Das Vorspiel erklingt auf dem Flügel, der von den Bühnenhelfern hereingeschoben wird. An den Tasten sitzt Nathanael und auf dem Deckel liegt Mika in einer aufreizenden Pose. Elegant greift er nach dem altmodischen Mikrofon.
Mit kräftiger Stimme gibt mein Freund ‚Let it Go‘ aus ‚Frozen‘ zum Besten! Es klingt fast so, als ob dieses Lied nur für ihn geschrieben wurde, da kann Elsa einpacken!
Selbstverständlich bekommen wir tosenden Applaus!
Das nächste Lied einer Eiskönigin ist schon düsterer. Es ist ‚Ich hasse Santa Claus‘ aus dem Film ‚Rudolph mit der roten Nase‘. Mika passt seinen Gesang an Nina Hagens Genie an: Er quietscht wie Martyn Jacques, grunzt wie Tom Waits und springt dann zu einem Bariton mit übertrieben rollendem ‚r‘ gleich Heino. Ich wusste ja, dass er gut singen kann, aber dass er so ein umfangreiches Talent besitzt?!
Nach den ersten verstörten Blicken macht sich Begeisterung im Publikum breit. Kaum dass der Vorhang zu ist, muss ich meinen Engel einfach küssen.
Gerade zum dritten Gang, einer feinen Käseplatte, die sowohl Klassiker wie Brie, Cheddar und Manchego als auch etliche Sorten, die ein Laie wie ich niemals erkennen würde. Und bei einigen muss ich mich zwingen sie aus Höflichkeit zu essen, da sie zu sehr stinken. Zum Glück ist der Rotwein kräftig genug um die Brocken runterzuspülen.
Nun kündigt Nathanael die nächste Nummer an: „Hoch verehrte Damen und Herren, und auch alle anderen, kommen wir nun zu einer Weihnachtsfreude, die Sie alle verzaubern wird! Ein Feuerwerk der Leidenschaft, ein Pulverfass prickelnder Erotik! Dass ihr Körper sich wie eine Schlange winden kann, davon durften Sie sich schon überzeugen, jetzt tritt sie für euch noch einmal auf, Neith, der Stern des Morgenlands!“
Aus den Lautsprechern klingt ‚Santa Baby‘ von Eartha Kitt. In einem schwarzen Weihnachtsmann-Kostüm schreitet Neith mit laszivem Hüftschwung auf die Bühne. Kunstvoll entkleidet sie sich zur Musik, bis sie nur noch ein schwarzes Korsett mit weißem Pelz und einen schwarzen String trägt.
„Ich liebe Burlesque“, flüstert mir Vincent zu, „und im Gegensatz zum plumpen Striptease geht es hier mehr um das Verführen und die Kunst, und nicht darum irgendwelche notgeilen Männer zu erregen. Gleich kommt das Beste:“
Jetzt öffnet Neith die Schnallen ihres Korsetts und dreht sich um. Dann öffnet sie eine Seite des Korsetts und wedelt neckisch damit, dann macht sie das mit der anderen Seite. Schwungvoll reißt sie sich das Kleidungsstück ab, schleudert es in Kreisen über ihrem Kopf und lässt es dann fallen. Die Tänzerin dreht sich um und wirbelt die Fransen an ihren Nippel-Klebern.
Unter tosendem Applaus geht sie von der Bühne ab, bevor sie hinter dem Vorhang verschwindet wackelt sie noch einmal mit dem Hintern.
Ein Jongleur führt atemberaubende Tricks mit Messern und Fackeln auf, danach balanciert ein Artist auf einer Rola-Rola.
Jetzt stellt der Conférencier den letzten Act des Abends vor: Noah am Barren. In seinem blauen Zirkus-Artisten-Kostüm bewegt er sich grazil an dem Sportgerät, wirbelt herum und überschlägt sich.
Soweit ich das beurteilen kann, ist er ziemlich gut darin, es ist auf jeden Fall faszinierend anzusehen!
Nach dieser Nummer müssen wir alle noch einmal auf die Bühne um uns zu verbeugen und den verdienten Applaus abzuholen.
„Die Freude und Dankbarkeit der Gäste sind mehr wert als alles Geld der Welt. Vor allem, wenn man dabei denen helfen kann, die es am nötigsten haben.“, meint Nathanael, „Aber ein einziger Abend im Jahr ist zu wenig, deswegen setze ich mich so viel ich kann für die Bedürftigen ein, auch meine Freunde hier helfen mir sehr. Und euch danke ich vielmals, für eure tolle Hilfe!“
„Es war einfach toll helfen zu können, und auch die Show war toll! Das Essen war auch köstlich!“, meine ich zu unserem Gastgeber, „Und nächstes Jahr werden wir mit Sicherheit auch wieder dabei sein. Auch sonst könnt ihr immer mit meiner Hilfe rechnen!“
Diese wunderbare und ungewöhnliche Weihnachtszeit werde ich ganz sicher nie wieder vergessen!
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Teil 1: https://www.iboys.at/stories/video-games-1190.html
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