Auf'm Friedhof - Graveyard Lovesong I + II

schwule Geschichte

Vincent wird von seinen Mitschülern geächtet, nur weil er anders ist. Seit dem Tod seiner Eltern wurde das Mobbing noch schlimmer, und selbst sein Onkel bei dem er jetzt lebt behandelt ihn schlecht. Unerträglicher kann das Leben nicht sein, da ist sich Vincent sicher, mit dieser Tatsache hat er sich bereits abgefunden.  Doch dann trifft er den mysteriösen und geheimnisumwobenen Jungen Nathanael...    
                                                                                                                                       ACHTUNG! Diese Geschichte behandelt Themen wie Depressionen, Tod, Suizid und Mobbing.
Zu dieser Geschichte habe ich eine kleine Playlist mit den erwähnten Liedern zusammengestellt, damit der geneigte Leser nicht jedes mal suchen muss:
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Auf'm Friedhof

Aus den Boxen dröhnte "A Forest" von The Cure als Vincent sich im Bad fertig machte. Mit etwas schwarzem Kajal unterstrich der Junge seine müden Augen.

Vincent war 17 Jahre alt und ging noch zur Schule, viele Freunde hatte er jedoch nicht, da er anders war. Sein Aussehen war anders, seine Art, seine Interessen.
Nur selten gab es Übereinstimmungen mit den anderen Jungen aus seiner Klasse.
Weder Fußball, Markenkleidung, Rap & Pop noch „Bitches“ tangierten ihn.
Ausgeschlossen, gedemütigt und verspottet von seiner Klasse zwang Vincent sich tagtäglich zur Schule, nur um den langweiligen und bisweilen auch unverständlichen Unterricht über sich ergehen zu lassen.

Am Straßenrand saß ein verlotterter Punk vor einer mit wenigen Münzen gefüllten Mütze. Freundlich grüßte dieser Vincent. Früher einmal hatte der Junge öfters mit Paul, so hieß der Punk, gesprochen. In letzter Zeit aber ging er wortlos an dem Bettler vorbei.
Auch die verachtenden Blicke einiger Passanten ignorierte der Junge.

Als er den Friedhof betrat riefen ein paar Jugendliche Vincent Worte des Spottes zu „Welches Grab schändest du heute? Oder willst du lieber 'ne Ziege opfern?“
Unbeirrt schritt der junge Goth vorbei an alten Gräbern zu dem neoklassizistischen Brunnen unter der knorrigen Weide. Aus seiner Tasche zog Vincent eine schwarze eiserne Gießkanne, welche er mit Wasser aus dem Brunnen füllte. Schwermütig schleppte er die Kanne zu einem schönen, liebevoll gepflegten Grab. Violette Rosen, weiße Chrysanthemen, ein gotisches Grablicht und ein großer, filigraner Grabstein auf dem ein Engel (,keine Putte) saß zierten das Grab.
Sorgfältig putzte Vincent das Grab, richtete die Blumen und goss diese. Mit einem Streichholz entzündete er die neue Kerze.
Lange Zeit saß der Junge schweigend vor dem Grab seiner Eltern.
Nun war es an der Zeit Nachhause zu gehen. Zurück zu seinem mürrischen Onkel.

Vincent war noch nicht einmal richtig angekommen, schon zeterte es aus dem Wohnzimmer: „Was soll dieser Aufzug? Ein Junge schminkt sich nicht!“.
Wortlos schleppte Vincent sich die Treppe hinauf in sein Zimmer. Um auf andere Gedanken zu kommen legte er Kraftwerk auf. Noch bevor die letzten Töne von „Radioaktivität“ verschallt waren schlief der Grufti ein.
Alpträume vom Tod der Eltern ließen den Schlaf aber keineswegs einen angenehmen werden. Immer wieder vielen Mutter und Vater den Flammen zum Opfer. Qualvolle Stunden vergingen, doch der Traum machte den Anschein niemals enden zu wollen.
Ein Scheppern aber riss Vincent aus dem Schlaf. Irgendetwas war gegen das Fenster geflogen. Erschrocken richtete der Junge sich auf und rannte zum Fenster. In einem Brief eingewickelt lagen Hühnerknochen und ein Stein auf dem Fenstersims.
Der Inhalt des Briefes verletzte Vincent sehr: „Widerlicher Leichenschänder. Verrecke du Opfer! Scheiß Satanist! Gib's zu, du hast deine Eltern verbrannt!“
Voller Wut knallte er sein Fenster zu. Nur wenige Sekunden später stauchte Onkel Frank den armen Jungen unter wüsten Beleidigungen zusammen.
Verzweifelt floh Vincent in das Dunkel der Nacht. Ohne es zu wissen rannte er auf den Friedhof zu.
Erst als er das Grab seiner Eltern erreicht hatte blieben die Füße stehen. Unter Tränen sackte der gebrochene Goth zusammen.
Vincent weinte gar jämmerlich, so sehr schmerzte ihn alles Geschehene, alle Abweisung, der ganze Hass und die Einsamkeit. Vor allem aber trauerte er um seine kürzlich verstorbenen Eltern.

Die besorgte Stimme eines Jungen riss den Trauernden zurück in die Realität: „Ist alles in Ordnung mit dir?“
Vincent wand sich weiter von dem unbekannten ab „Das geht dich gar nichts an!“
„Wenn jemand so traurig ist, so muss es ihm wirklich schlecht ergehen. Wie kann ich dir nicht meine Hilfe anbieten?“ bohrte der Junge weiter.
„Ach was! Du willst mich ja nur verspotten und dich über meinen Stil lustig machen, wie alle anderen auch!“
„Ich gebe zu,“ entgegnete die mysteriöse Person, „dein Aussehen hat mich Anfangs etwas erschreckt und auch ein wenig verwirrt, doch eigentlich finde ich es ganz interessant und es hat auch eine gewisse Ästhetik. Dich zu denunzieren und linken liegt mitnichten in meinem Interesse. Ich will dir ehrlich helfen, so glaub mir doch!“
Die Ehrlichkeit der Stimme veranlasste Vincent dazu auf das Gespräch einzugehen: „Verzeih mir, der Tod meiner Eltern und Alles, das ist einfach zu viel für mich,“ weitere Tränen rannen, „wenn doch nur ich anstelle Mutter und Vater verbrannt wäre...“
„Sag doch so etwas nicht, ich bin sicher, ihnen geht es gut, dort wo sie jetzt sind. Du musst jetzt stark sein und dich hier um ihr Grab kümmern, ihr Erbe antreten. Du solltest aufhören zu Weinen, deine ganze Schminke verwischt ja noch!“ mit diesen Worten reichte der Unbekannte dem Weinenden ein Stofftaschentuch. Dankend drehte Vincent sich um – und erblickte einen hübschen blassen Jungen, braunes Haar, so etwa 15 bis 17 Jahre alt, in recht altmodischer Kleidung. Verwirrung machte sich in seinem Gesicht breit.
„Mein Name ist Nathanael.“ lächelnd bot der Fremde dem Häufchen Elend seine Hand an, „Steh doch bitte auf, ich rede so ungern von oben herab“.
„Und ich bin Vincent. Meine Eltern waren große Vincent Price Fans.“
Eine Weile schauten sich die beiden Jungen musternd an.

„Was führt dich zu dieser späten Stunde an einen Ort wie diesen?“, fragte Nathanael Vincent.
„Ich habe es nicht mehr ausgehalten und brauchte meine Ruhe“
„Darf ich erfahren was vorgefallen ist?“
„Dass meine Eltern verstorben sind, weißt du ja. Mein Onkel hasst mich und in der Schule werde ich niedergemacht und beleidigt, weil ich anders bin. Aber wieso erzähle ich dir das überhaupt alles?!“
Nathanael sah die Trauer und Wut erneut in Vincent hochsteigen. „Es tut mir so leid, es war mitnichten meine Absicht dich zu verletzen oder an Schlimmes zu erinnern! Ich weiß, wie du dich fühlst. Auch ich wurde verstoßen und gequält, nur, weil ich anders bin...“
„Das tut mir aufrichtig leid, ich wusste das nicht... Darf ich jetzt auch erfahren, wieso DU hier bist?“
„Ich... äh...,“ stammelte Nathanael verlegen, „...ich... ich muss jetzt leider gehen...“ mit diesen Worten rannte er weg.
Irritiert starrte Vincent auf die Stelle, wo Nathanael Sekunden zuvor stand. Auch er machte sich jetzt auf den Weg.

„Friday I'm in love“ schallte Vincents Wecker am Morgen. Müde rieb er sich den Schlaf aus den Augen und trottete ins Bad. Nachdem er sich geduscht hatte, trug Nathanael dezenten Eyeliner auf und zog sich sein Joy-Division-T-Shirt (Natürlich Unknown Pleasures) und eine schwarze Hose an. Er zog sich außerdem noch ein paar schwarze Lackschuhe an und begab sich auf den Weg zur Schule.

Schon bevor er das Schulgelände erreicht hatte, begannen die anderen Schüler Vincent zu verspotten. Im Klassenzimmer ging es gerade so weiter. Der Goth aber bekam von den üblichen Schikanen nichts mit, so sehr war er noch in Gedanken an die letzte Nacht vertieft. Wer war dieser mysteriöse Nathanael? Wieso war er nachts auf dem Friedhof? Was hatte es mit dieser altmodischen Kleidung auf sich? Und warum war er trotz Vincents abschreckenden Gothic Stils so freundlich zu ihm, obwohl er ihn doch gar nicht kannte?
Im Deutschunterricht wurde die letzte Arbeit zum Thema „Romantik“ zurück gegeben. Eigentlich hätte er sich über seine 1 gefreut, würde er dafür nicht auch noch als „Streber“ beleidigt werden.
Nach Stunden des Grübelns und Gehänselt Werdens rang endlich die Schulglocke und schickte die Schüler in ihr Wochenende.

Wochenende... Für Vincent noch mehr Zeit zum Trauern, Musik hören und Nachdenken.
Zuhause angekommen bastelte und nähte der Goth zu den Klängen von Other Day an seiner Kleidung. Nebenbei biss er immer wieder von seinem Mittagsessen ab. Eigentlich hatte er keinen Hunger, aber irgendwann musste Vincent ja essen.
Mit dem Einbruch der Dunkelheit wurde es ihm zu dunkel für die Handarbeit und so entspannte er sich zu einem abgewetzten Mixtape, dass ihm seine Mutter gemacht hatte. Sowohl seine als auch ihre Lieblingslieder waren darauf zu finden.
„Auf'm Friedhof“ von der deutschen Gothic-Queen und „Godmother of Punk“ Nina Hagen erinnerte Vincent daran, dass er wieder auf den Friedhof gehen wollte, in der Hoffnung Nathanael dort wieder anzutreffen um endlich Antworten auf seine Fragen zu bekommen. Und wenn er nicht da sein wird, womit Vincent rechnete, könne er immer noch an das Grab seiner Eltern gehen. Also putzte er sich schnell für den Friedhof raus.
Der Weg zum Friedhof war bei Nacht viel friedlicher und frei von Menschen, die Vincent verachtungsvoll Anstarren könnten.

Der Friedhofsweg war bei Nacht nicht ausgeleuchtet und so leuchteten lediglich der Mond und die Grablichter dem Jungen den Weg.
Am Grab seiner Eltern sprach Vincent ein Gebet für seine Eltern und setzte sich davor. Lange Zeit geschah nichts. Ein Rascheln im Gebüsch erregte die Aufmerksamkeit des Wartenden. Hinter ihm knackte ein Ast. Schritte näherten sich.
„Du bist ja schon wieder des Nachts auf dem Friedhof!“ begrüßte Nathanael Vincent „aber... das heißt doch nicht, dass es dir schon wieder so schlecht geht wie gestern?!“
„Nein, mir geht es besser, sei unbesorgt. Ich bin hier, weil ich bei meinen Eltern sein wollte und gehofft habe, dich wieder hier anzutreffen! Ich hätte da eine Frage: Wieso bist du so nett zu mir? Warum bietest du einem gruseligen Fremden deine Hilfe an?“
„Du schienst so extrem gelitten zu haben, da hatte ich Mitleid mit dir. Außerdem fand ich dich so faszinierend, da stand ich schon vor dir, ehe ich wusste was ich tat. Ich hoffe deinen Stolz nicht gekränkt zu haben?“
„Nein,“ entgegnete Vincent, „du hast mich nicht gekränkt, du hast mir vielmehr geholfen und mich aufgemuntert. Vielen Dank dafür.“
„Aber... gern geschehen.“
„Das ist das erste Mal seit dem Tod meiner Eltern, dass jemand wirklich nett zu mir ist. Wobei, wenn ich es mir recht überlege, war schon seit Jahren außer meinen Eltern fast keiner nett zu mir.“ mit diesen Worten verdüsterte sich Vincents Blick.
„Wieso? Du bist außerordentlich sympathisch und nett scheinst du auch zu sein. Zudem bist du interessanter als die Anderen, du bist ungewöhnlich und einzigartig!“
Vincent errötete „D...danke. Aber den Meisten bin ich zu anders, zu gruselig. Ändern könnte ich mich dennoch nie, und das will ich auch gar nicht!“
„Und das ist auch gut so! Sonst hätte ich dir vielleicht gar nicht geholfen. Ich habe sofort gemerkt, dass auch du verstoßen wurdest. Dennoch bist du stark, das bewundere ich“ quoll es aus dem altmodisch gekleideten Jungen.
„Du scheinst aber auch besonders zu sein, in deinem Erscheinen, deiner unglaublich warmen und freundlichen Art und sympathisch bist du ebenfalls!“
„Danke Vincent. Aber ich habe ein schreckliches Geheimnis... Was machst du eigentlich, wenn du nicht auf dem Friedhof bist?“
Vincent überlegte „Ich höre sehr viel Musik, schaue Horrorfilme, lese gruselige und düster-romantische Literatur, schreibe gern und arbeite an meiner Kleidung. Und du?“
„ich finde deine Kleidung wirklich sehr schön! Ebenjene literarischen Werke liebe ich auch. Du meinst solch tolle Filme wie Nosferatu oder das Phantom der Oper? Musik ist ebenfalls eine meiner Leidenschaften! Ich spiele sogar Violine und Piano! Aber ich liebe es auch in das Theater zu gehen!“

Eine Weile schwiegen die Jungen.
„Bei Nacht ist der Friedhof so unglaublich schön! Nur schemenhaft sind die schönen Grabsteine zu sehen, dafür aber sieht man das klare Leuchten der Sterne und des Mondes und die romantischen Grablichter so unverfälscht und kräftig!“ seufzte Nathanael
Nickend lies Vincent seinen Blick über den Äther und den Friedhof schweifen.
„An solch einem romantischen Ort hat ein nächtliches Treffen fast schon den Charakter eines Rendez-Vous“ dachte sich Vincent und errötete. „Sicher, Nathanael wäre da gar keine so schlechte Wahl, er sieht gut aus und hat einen wunderbaren Charakter, aber er ist ein Junge und überhaupt kenne ich ihn doch gar nicht...“
„Bach oder Chopin?“ mit diesen Worten riss Nathanael ihn aus seinen Gedanken.
„Hm?“
„Wen bevorzugst du? Johann Sebastian Bach oder Frédéric Chopin?“
„Ich denke Bach! Ich liebe ‘toccata et fugue' von Bach!“
„Das ist ein wahrlich schönes Stück, aber auch 'komm oh Tod du Schlafes Bruder' ist wunderschön. Chopin hingegen hat die Nocturnes... ich kann mich da nicht entscheiden!“ mit überspielter Mimik schaute Nathanael in Richtung Vincent 'denkend' und mit verschränkten Armen nach oben.
Dann erzählte er von den klassischen Stücken die er am liebsten auf dem Piano oder der Violine spielte, welches Arrangement und welchen Stil er dabei verwendete und wie gern er Vincent jetzt etwas vorspielen will, um ihm zu beweisen, dass er wirklich so toll spielen kann.
„Ich muss nun gehen, aber es hat mich gefreut, endlich mal wieder richtig mit jemanden sprechen zu können“ verabschiedete sich Vincent.
„Da stimme ich dir zu. Falls du mich je suchen solltest, du findest mich immer um Mitternacht hier auf dem Friedhof.“ noch während er sprach rannte Nathanael von dannen.

Zufrieden zog Vincent nach Hause. Erfüllt von dem Gefühl einen neuen Freund gefunden zu haben.

Am Samstagmorgen ging Vincent in die Innenstadt zum Second-Hand-Laden um ein einfaches schwarzes Hemd zu kaufen. Danach holte er im 1-€-Laden ein paar Netzstrumpfhosen und Sicherheitsnadeln.
Auf dem Weg in den Plattenladen wurde der Goth von Paul, dem Punk aufgehalten: „Hey Vinny, haste mal kurz Zeit? Es geht um ne' Bewerbung.“
„Hm?“
„Kannste da mal drüber schauen?“
„Aber sicher“ murmelte Vincent als er Paul den handschriftlichen Zettel abnahm.
Der Bewerbungstext war inhaltlich wie sprachlich ganz ordentlich. So gab er den Brief wieder zurück.
„Viel Erfolg bei der Bewerbung! Und noch einen schönen Tag.“
Wie gern würde Paul wieder arbeiten, aber ohne einer festen Anschrift und der großen Lücke im Lebenslauf war es für ihn so gut wie unmöglich eine Anstellung zu finden.

Vincent hatte Glück, der Plattenhändler hatte gerade eine LP von Raskolnikov und eine Bauhaus CD rein bekommen. Da der Junge ein Stammkunde war gewährte der Händler ihm Rabatt.

Wieder zuhause legte Vincent sogleich die neu erworbene LP auf und bearbeitete die Netzstrumpfhosen: Die Fußenden schnitt er ganz ab, im Bereich zwischen den Beinen entfernte er so viel Stoff, dass er mit dem Kopf durchpasste. Fertig war das Netzshirt.
Weiter ging es mit dem Hemd. Dass es sich dabei um ein Button-Down Hemd handelt vereinfachte dessen Bearbeitung. Aus einem schwarzen Stück Stoff faltete er sich ein Jabot, dass er an den Knöpfen befestigen konnte.
Als Vincent sein Tagespensum an Handarbeiten erfüllt hatte griff er nach einem Gedichtband von Johann Wolfgang von Goethe. Nicht wenige Gedichte strotzten nur so vor düsterster Romantik, sodass Vincent sich völlig in ihnen verlor. Schicksale voll von Tragik, Horror, Geistern, Lebenden Toten, Dämonen und Göttern.

„Es gibt Abendessen, Clown!“, brüllte der Onkel schroff.
Vincent begab sich zügig zu Tische, auf ihn wartete ein Teller mit Dosenravioli. Schweigend aß er seine Portion.
Wie jeden Samstag verließ Frank nach dem Essen das Haus um sich in der nahe gelegenen Kneipe volllaufen zu lassen.
Einmal die Woche hatte Vincent die Gelegenheit sich einen Film anzusehen.
Aus seinem Regal zog er die DVD „Der Untergang des Hauses Usher“ mit seinem Namens-fetter Vincent Price. Bevor er mit dem Film begann setzte er etwas Wasser für eine Tasse Earl Grey auf. Noch während das Wasser kochte kam ihm die Idee mehr Tee zu kochen und in eine Thermoskanne zu füllen.
Nachdem er den Film zu ende gesehen hatte zog der Junge sein Make-Up nach und seine neuen Kleider an. Jetzt ging er wieder auf den Friedhof.

Auf dem Brunnen wartete Nathanael schon auf ihn.
„Ich habe gehofft, dass du heute wieder kommst.“ grinste er Vincent zu.
„Ich mag den Friedhof. Aber vor allem bin ich hier, weil es einfach gut tut wenn ich mich mit dir unterhalten kann...“ entgegnete Vincent.
„Danke“ lächelte Nathanael. Dabei ließ er fröhlich seine Beine baumeln. „Dass ich hier jemanden treffe, der auch den Friedhof bei Nacht mag ist wahrlich ein wunderbarer Zufall!“
„Sagt der altmodisch gekleidete Junge, der nachts auf dem Friedhofsbrunnen sitzt!“
Die Blicke der beiden Jungs trafen sich und sie brachen in schallendes Gelächter aus.
Plötzlich verstummte Vincent „Wir sollten hier nicht so laut sein, sonst wecken wir noch die Toten“.
„Dazu braucht es schon mehr als dass, aber du hast schon recht, wir sollten um diese Zeit nicht ganz so laut sein.“ Mit diesen Worten sprang Nathanael vom Brunnen.
Wieder zog der Goth seine Gießkanne aus seiner Tasche um das Grab seiner Eltern, zu dem sie sich begaben, zu Wässern.
„Ich finde deine Hingabe gegenüber deinen verschiedenen Eltern bewundernswert. Junge Menschen die sich so liebevoll um ein Grab kümmern ist nicht gerade alltäglich“.
„Auch die Toten haben Respekt, Liebe und Beachtung verdient! Besonders wenn es sich um geliebte Menschen handelt!“
„Das hast du aber schön gesagt, Vincent“
„Ach was!“

Nachdem Vincent das Grab gepflegt hatte, setzten sich die Jungs auf eine Bank.
„Willst du eine Tasse Earl Grey?“, sprach der Grufti als er seine Thermoskanne herauszog.
„Das ist mein Lieblingstee, gern nehme ich eine Tasse!“
So schenkte Vincent beiden den Tee ein.
„Köstlich! Vielen Dank!“
„Nicht dafür!“
„Und dennoch bedanke ich mich!“, grinste Nathanael.
„Du bist wirklich komisch!“
Genüsslich tranken die Beiden ihren Tee.

„Äh...also...ich... ich muss dir jetzt doch mal eine Frage stellen...“
verlegen schaute Nathanael zu Boden.
„Frag doch, ich werde dich schon nicht auffressen!“
„Also gut. Was hat es mit deiner Kleidung auf sich? Sie ist doch arg ungewöhnlich, wenn ich das sagen darf.“
„Das ist Gothic. Also nicht das neumodische Cyber, Victorian, Bondage, Mittelalter oder so. Zeugs, das kann zwar auch cool sein, wäre dann aber eher Schwarze Szene.
Das hier hingegen“, dabei zeigte Vincent auf seine Kleidung, „Das ist echte Gothic- oder Grufti-Mode. Eine
Mischung aus Punk und New Romantic in düster und Schwarz.
Das Ganze ist musikorientiert, damit will ich sagen, die Musik die ich höre ist besonders wichtig. Zu den Typischen Gothic-Genre gehören neben Gothic Rock auch Dark Wave, Postpunk und Deathrock, aber auch düsterer Synth-Pop und psychedelischerer Horror-Punk werden gerne gehört “
Fasziniert und recht verwirrt blickte Nathanael in Vincents Gesicht.
„Darunter kann ich mir recht wenig vorstellen, die meisten Begriffe sind mir fremd, muss ich gestehen. Aber du brennst mit solch einer Flamme dafür, da muss es wohl sehr gut sein.“
Der Grufti grinste. „Ich kann es dir ja mal vorspielen.
Aber nicht nur die Musik ist wichtig, wenngleich sie am wichtigsten ist. Auch ist der Hang zum Schauderhaften und Makabren, eine Vorliebe für Düsteres und das Auseinandersetzen oder gar eine romantische Sicht auf den Tod Teil der Szene.“
„Diesen Teil habe ich sehr gut verstanden und muss gestehen, dass auch ich mich für diese Sachen begeistern kann! Dennoch sehe ich mich als einen durchaus positiven Menschen“
„Wir Gruftis sind doch auch nicht dauerhaft depressiv, es gibt sehr viele glückliche Exemplare. Und bevor du auch nur auf die Idee kommst: Nein, wir beten nicht den Teufel an oder sind sonst wie bösartig.“
„Das würde ich dir auch nie unterstellen!“ entgegnete Nathanael entsetzt.
„Du vielleicht nicht, viele andere aber leider schon. Der Strom an Beleidigungen ist schier unendlich.“
„Wem sagst du dass? Menschen können wirklich grausam sein…“ betretene Stille breitete aus.

Nach einer Weile durchbrach Vincent das Schweigen „I-ich wollte dich nicht runter ziehen, das tut mir leid.
Darf ich dir ebenfalls eine Frage stellen?“
„Natürlich“
„Liege ich richtig in der Annahme, dass du einen Hang zum Altmodischen hast? Ich würde deinen Stil in etwa auf das Ende 19. Oder den Anfang des 20. Jahrhunderts datieren.“
Kurz grübelte Nathanael. Dann nickte er. „Um genau zu sein 1920er.“
„Ich finde deinen Stil auf jeden Fall toll! Außerdem steht dir diese Kleidung gut.“
„Danke, dass freut mich wirklich sehr!“

Vincent musterte sein Gegenüber noch einmal genau. Nun blieb sein Blick auf der Kette an der Weste hängen.
„Ist an der Kette etwa eine Taschenuhr? Eine richtige, echte Taschenuhr? Eine mechanische zum Aufziehen?“
„Ja“, antwortete Nathanael, „willst du sie dir mal ansehen?“
„Aber gerne doch“
Verspielte Jugenstilornamente zierten den Deckel der Uhr. Auf der Rückseite aber befand sich ein Wappen.
Als Vincent die Uhr öffnete, bemerkte Nathanael, wie spät es schon war.
Zügig verabschiedete er sich und verschwand im Dunkel der Nacht.

Auf dem Heimweg dachte Vincent über das Treffen nach. Wieso hatte Nathanael es immer eilig zu verschwinden? Wieso war er immer nur auf dem Friedhof anzutreffen? Wieso fühlte Vincent sich in seiner Anwesenheit so wohl und doch auch seltsam?

OMDs Cover von „Sunday Morning“ weckte den jungen Goth aus seinem Schlaf.
Musik war schon seit jeher eine von Vincents großen Passionen. Dank seiner Eltern kam er auch schon früh damit in Kontakt. Seine Mutter hörte viel Punkrock, von Pop-Punk wie Greenday, über Post-Punk, klassischem Punkrock, Deutschpunk bis hin zu Oi!,
Sein Vater hörte fast alles, dass irgendwie mit Rock oder den 80ern zu tun hatte.
Aus diesem großen Angebot suchte der Junge sich früh schon das heraus, was ihm besonders gefiel. Später dann vertiefte er seine Vorlieben und konzentrierte sich auf Gothic und Dark Wave.
Gut gelaunt begab Vincent sich zum Frühstück.
„Na endlich lächelst du mal wieder!“ grüßte der Onkel seinen Neffen.
Dieser nickte ihm zu und quittierte mit einem kurzen „Guten Morgen!“
„Übertreib's nicht!“
Da Sonntag war, gab es Brötchen frisch vom Bäcker und Croissants mit Butter. Normalerweise frühstückte Vincent lieber salzig, aber auf den Brötchen bevorzugte er Kirschkonfitüre, besonders die von Tante Agnes. Tante Agnes war nicht mit dem Jungen verwand. Sie ist lediglich eine Bäuerin, die auf dem Wochenmarkt ihre Hausgemachten Produkte und Erzeugnisse ihres Hofes verkauft.

Nach dem Frühstück erledigte Vincent seine Hausaufgaben und bereitete seinen Vortrag für den Musikunterricht vor.

Bevor der Goth am Abend das Haus verließ kochte er eine Kanne Earl Grey und beschmierte ein paar Brötchen mit Butter und Kirschkonfitüre.

Diesmal war Vincent schon früher auf dem Friedhof. Anmutig entzündete er ein Grablicht für seine Eltern. Bis Mitternacht war noch ein wenig Zeit, so widmete sich der Grufti den anderen Gräbern zu. Die melancholische Schönheit zog in vollends in ihren Bann. Sein Weg zog ihn zum historischen Teil des Friedhofes.
Plötzlich erstarrte Vincent vor dem Grab eines Jungen. Nicht aber das junge Alter des Verstorbenen, er wurde gerade mal 16 Jahre alt, schockierte ihn. Vielmehr der Name und das am Grabstein angebrachte Bild waren Grund für seine Paralyse: So hieß der Junge doch tatsächlich Nathanael und auch das Bild ähnelte dem Nathanael sehr, den Vincent von ebendiesem Friedhof kannte! Er musste ein Verwandter aus dem frühen 20. Jahrhundert gewesen sein!
Gefesselt skizzierte der Dunkel gekleidete Junge den Grabenstein:
Nathanael Wagner
*05.03.1911 †13.05.1927
„In Gedenken an unseren geliebten Sohn, der uns grausam entrißen wurde“

Zwölf Glockenschläge rissen Vincent aus seinen Gedanken. „Jeden Moment könnte Nathanael auf dem Friedhof auftauchen.“, murmelte er während er zurück zum Grab seiner Eltern ging.
Kurze Zeit später tauchte Nathanael auch schon im Schimmer der Grablichter auf.
„Schön, dass du wieder da bist!“
„Ich wüsste nicht, was mich davon abhalten sollte, dich hier auf dem Friedhof zu treffen“ entgegnete Vincent.
„Vielleicht findest du mich ja seltsam oder nervig, vielleicht aber auch einfach nur langweilig?“
„Wieso sollte ich? Dann wäre ich ja schon die anderen Tage nicht her gekommen. Und dann wären wir gewiss auch keine Freunde.“
Bei diesen Worten errötete Nathanael und ein unglaublich warmes und glückliches Lächeln zog auf sein Gesicht. „Ja, wir sind Freunde...“

„Ich habe wieder Tee mitgebracht.“ Vincent schenkte sich und seinem Freund einen Becher ein, „Dieses mal habe ich sogar eine Kleinigkeit zum Essen mitgebracht,“ dabei holte er die Marmeladenbrötchen aus seiner Tasche. Dankend nahm Nathanael Speis und Trank an.
Auch in dieser Nacht waren die Gespräche tief philosophisch.
Als Nathanael sich verabschieden wollte, bemerkte er Tränen auf den Wangen seines Freundes.
„Was ist? Musstest du wieder an den Tod deiner Eltern denken?“
„D...das ist es nicht...“ schluchzte Vincent, „vielmehr das Wissen, dass ich morgen wieder in die Schule muss. Zu all diesen widerlichen Idioten, die mich den ganzen Tag niedermachen, zu den Lehrern, die kein Verständnis für meine Situation haben...
Außerdem... außerdem sollte ich eigentlich schon heute nicht mehr um diese Zeit hier sein... Ich muss doch so früh aufstehen... und wenn mein Onkel mitbekommt, dass ich jeden Abend so spät noch weg bin...“, da konnte der Junge sich nicht mehr halten und die Tränen rannen nun in Strömen.
Behutsam legte Nathanael seine Arme um ihn.
„Ist ja gut... Du musst nicht jeden Abend zu mir kommen, wenn du nicht kannst, dann kannst du nicht. Auch wenn ich unsere Gespräche sehr schätze, so habe ich doch Verständnis.
Und das mit den Anderen. Das sind, wie du gesagt hast, Idioten! Steh da einfach drüber, sie sind es nicht wert! Ignoriere sie.“
Nach einer Weile hatte Vincent sich wider beruhigt und ging nach Hause.

Der nächste Tag spielte sich genau so ab, wie Vincent es prophezeit hatte. Seine Mitschüler waren gewohnt grausam, die Lehrer blind.
Auch wenn sein Verstand ihm davon abriet, so ging der Goth diese Nacht doch wieder auf den Friedhof.

Nathanael begab sich gegen Mitternacht zu dem Grab der Eltern seines Freundes. Wenn Vincent nicht kommt, so wollte er sich um die Pflanzen kümmern.
Am Grab jedoch warteten zwei Jungen. Als Nathanael sich der Pflege der Pflanzen hingeben wollte zog ihn einer der beide hoch: „Wo is' Vincent?“
„Keine Ahnung..., heute ist er nicht hier, wieso?“
„Wir würden gerne mit ihm...reden. Wir sind Freunde von ihm.“
Natürlich glaubte Nathanael ihnen kein Wort. Dennoch bewahrte er Ruhe. „Soll ich ihm etwas ausrichten?“
„Nicht nötig“, tönte Vincents Stimme aus der Dunkelheit, „hier bin ich. Aber geh doch bitte nach Hause, ihr Anliegen wird bestimmt privat sein.“
„So isses, Alter. Du kannst jetzt gehen“
Wie geheißen zog Nathanael sich zurück.
„Also Daniel, Niklas, was wollt ihr?“
„Niklas hat dich hier hingehen gesehen, Junge, immer in der Nacht, da wollten wir mal schaun was du so machst. Ist ja lame, ich hab auf ne kranke Scheiße gehofft. Ist aber wayne, wir schicken dich jetzt zu deinen Kackeltern!“ Dabei zertrat er die Grablaterne und spuckte auf den Engel. Dann zog er ein Messer aus seiner Tasche.
„Wallah, das meinste nich wirklich ernst, Alter! Fuck!“ fluchte Niklas.
Wie angewurzelt stand Vincent da. Die Klinge auf ihn gerichtet hechtete Daniel auf ihn zu. Sein Körper lies sich nicht bewegen, er konnte nicht fliehen. Der Angreifer kam immer näher. Kurz bevor die Klinge sich in das Herz des Goths bohren konnte stieß ihn etwas zur Seite. Aus Reflex rannte er hinter das nächste Gebüsch und versteckte sich dort.
Nathanael hatte ihn fortgestoßen. Dabei wurde Vincents Retter jedoch erwischt.
Wahnsinnig stach Daniel auf den Jungen ein. Nathanaels Schmerzensschreie erstickten, der Mörder rammte dennoch weiterhin in das Herz, die Lungen und weitere überlebensnotwendige Organe.
Als Vincent sich wieder bewegen konnte flüchtete er so schnell er nur konnte.
Zuhause schlug er die Tür zu und rannte auf sein Zimmer. Alles schien sich zu drehen. Dann brach er über seinem Bett zusammen.

Erst am späten Abend des nächsten Tages wachte Vincent auf. Der gewaltsame Tod Nathanaels schmerzte ihn sehr. Aber auch Wut durchströmte ihn.
„Hätte ich ihn doch nur beschützt. Wieso nur bin ich geflohen? Ich bin so ein schlechter Freund!“
Unter Tränen bahnte der Goth sich seinen Weg durch die Nacht, bis er wieder den Friedhof erreichte. Am Grab seiner Eltern entzündete er eine Grabkerze und entschuldigte sich dafür, dass er sie enttäuscht habe. Dann ging er weiter zu dem Grab von Nathanaels Vorfahren.
Auch bei ihm entschuldigte Vincent sich für sein Versagen.
„Erst verliere ich meine Eltern, dann lerne ich endlich wieder jemanden kennen, der mir wichtig ist und lasse ihn sterben. Ich habe versagt, verzeih mir...“ murmelte der Junge.
Dann zog er ein Messer heraus, setzte die scharfe Klinge an der Innenseite des Unterarmes an und...
Von Hinten riss ihm jemand das Messer aus der Hand und umschlang ihn.
„Tu das nicht!“ schrie Nathanaels stimme. Vincent spürte warme Tränen auf seiner Schulter. „Ich möchte dich nicht verlieren. Mach dir keine Sorgen, ich bin ja hier, mir geht es gut.“
„Aber wie ist das möglich? Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass Daniel dich erstochen hat. Und das nicht nur einmal...“ Erstaunen, aber auch Erleichterung lagen in Vincents Stimme. Vorsichtig drehte er sich um und erwiderte die Umarmung. „Ich bin ja so froh, dass du lebst. Wie konntest du das nur überleben?“.
Verlegen starrte Nathanael zu Boden. Dann löste er behutsam die Umarmung. „Ich denke, ich muss dir etwas gestehen. Du siehst doch meine altmodische Kleidung, und du siehst den Namen und das Bild auf diesem Grabstein. Über meinem Grabstein. Ich bin 1927 gestorben.“
Schockiert starrte Vincent seinen Freund an.
„Ich weiß weder wie noch wieso ich wieder 'lebe', aber ich bin sehr dankbar dafür, denn so konnte ich dich kennen lernen! Das Ganze begann ungefähr zwei Wochen bevor ich dich kennenlernte. Immer um Mitternacht erwachte ich, doch nach drei Stunden schon überfiel ein tiefer Schlaf meinen Körper. Bitte fürchte dich nicht vor mir und folge mir“
Doch statt der erwarteten Angst glänzte Faszination in den Augen des Gruftis. „Das ist höchst interessant! Gern folge ich dir!“.
Nathanael führte ihn über den Friedhof zu einem alten Mausoleum. Der Untote öffnete die Tür.
„Hier liegen meine Eltern und Großeltern. Hier fand ich jeden Tag Ruhe, abgeschieden vor den Augen Fremder.“
„Wunderschön,“ staunte Vincent, „wunderschön, doch bestimmt auch unglaublich unbequem!“
„Fürwahr! Aber mit etwas Glück ändert es sich ab heute. Bis gestern noch konnte ich das Friedhofsgelände nicht verlassen. Nachdem ich aber erneut starb wachte ich vor wenigen Stunden in einem Gebüsch im angrenzenden Park. Irgendwie hat mein zweiter Tod mich von allen Einschränkungen befreit. Ich war außerhalb des Friedhofs und es ist ja jetzt noch nicht Mitternacht...
Worauf wollte ich nochmal hinaus?... Ach ja! Soweit in den langen Jahren meines Todes das Anwesen meiner Familie nicht neu bezogen oder abgerissen wurde, so kann ich jetzt also wieder dort 'leben'. Würdest du mich bitte dorthin begleiten?“
„Aber gerne doch! Ich will unbedingt wissen, wie jener Ort aussieht, an dem du aufgewachsen bist! Außerdem kann ich dir helfen, falls du Probleme mit der heutigen Zeit hast. Es hat sich in den letzten 90 Jahren einiges verändert.“
So gingen die Freunde zu einem großen Anwesen am Rande der Stadt. Es war heruntergekommen, doch herrschaftlich und wurde tatsächlich Seit geraumer Zeit nicht mehr bewohnt.
Nathanael zog einen alten Schlüssel heraus und öffnete die Tür.
Vincent staunte nicht schlecht: Ein großes Foyer mit Schachbrettboden, immer noch grünen Pflanzen, einem dunkelroten Läufer, Büsten, einer elegant gearbeiteten Treppe und einem großen Kristalllüster begrüßte sie. Alles war von Staub und Spinnenweben bedeckt.
„Deine Familie scheint sehr reich zu sein,“ staunte Vincent.
„Ja, einst gehörte ich einer reichen Familie an. Mit mir als einzigen Nachfahren jedoch ist sie ausgestorben.“ traurig blickte der Erbe zu Boden.
Tröstend legte Vincent seine Hände um Nathanaels, „Jetzt lebst du ja wieder.“
„Danke... ich würde dir ja etwas zu Trinken anbieten, aber ich schätze wir haben nichts genießbares“
Mit einer Öllampe führte der Herr des Hauses seinen Freund durch das gesamte Anwesen, erzählte von der Familie und lud ihn schließlich in sein Zimmer ein.
„Das alles ist wirklich interessant!“ bemerkte der Grufti, „Eins aber interessiert mich besonders. Wie bist du gestorben, wenn ich fragen darf.“
„Ich wurde ermordet... erstochen, so wie auch gestern.“. Dann öffnete Nathanael seine Weste und hob das Hemd etwas an. Eine alte, große Narbe klaffte über seinem Herzen. Obwohl das alles ihn sehr berührte, ertappte Vincent sich dabei, dass er den Anblick der blassen, nackten Brust und der Narbe zu sehr genoss. Errötet drehte er sich weg.
Nach einer Weile des Schweigens zeigte Nathanael seinem Freund all seine Bücher: etliche Werke der Romantik reihten sich neben Goethe, Schiller, Shakespeare und anderen Klassikern und etwas 'modernerer' Literatur.
Danach quetschte Vincent ihn über das Leben in den 20ern aus. Voller Elan schwärmte der Untote von rauschenden Bällen samt Big Band „Tanzorchestern“, der leuchtenden Mode und dem wirtschaftlichen Aufschwung.
Im Gegenzug berichtete der Goth von den historischen, wissenschaftlichen und kulturellen Ereignissen und Veränderungen. Von der wirtschaftlichen Depression am Ende der 20er, dem 2. Weltkrieg, der DDR, vom Wandel der Unterhaltungsmusik, der Entstehung des Rocks und der elektronischen Musik (worunter sich Nathanael fürwahr nichts vorstellen konnte), den neuen Automobilen, dem Internet und Mobiltelephonen.
„Darf ich heute Nacht bei dir übernachten?“ bat Vincent.
„Selbstverständlich, warte kurz, ich klopf dir nur schnell die Matratze aus und suche dir eine einigermaßen saubere Decke.“
Auch wenn Nathanaels Bett unerwartet bequem war, konnte der Grufti nicht einschlafen. Zu viele Gedanken spukten in seinem Kopf. Ein leises Pianospiel lockte ihn aus dem Bett. Die Tür des Musikzimmers stand einen Spalt breit offen. Voller Hingabe spielte Nathanael Chopins Nocturnes auf dem alten Flügel.
„Im Mondlicht sieht er wahrlich wie ein wunderschöner Engel aus.“ schoss es Vincent durch den Kopf.
„Komm doch rein und höre mir ein wenig beim Spielen zu.“
„Ich konnte nicht schlafen, und dann habe ich dich so schön spielen gehört. Tut mir leid, falls ich dich störe.“
„Nicht doch, du störst keineswegs. Es macht mich glücklich, dass dir mein Spiel gefällt, obwohl der Flügel nach all den Jahren merklich verstimmt ist.“
So lauschte Vincent eine Weile der Musik.
„Eine Frage beschäftigt mich immer noch: Wieso und von wem wurdest du umgebracht?“
„Du wirst mich hassen, wenn ich es dir erzähle.“ seufzte Nathanael.
„Jetzt muss ich es noch eher wissen! Wir sind doch Freunde, du kannst mir gegenüber ruhig ehrlich sein.“
„...Es waren mehrere Jugendliche aus der Schule. Sie hatten mich beleidigt und unter Prügeln zur alten Weide vor der Stadt gejagt. Dann hat ein Junge ein Messer herausgezogen und mich erstochen. Grund dafür war, dass sie herausgefunden haben, dass ich Schwul bin. Jetzt verabscheust du mich bestimmt...“ Tränen tropften auf die Tasten des Flügels.
Sanft wischte Vincent ihm die Tränen von der Wange. „Dafür hasse ich dich doch bestimmt nicht. Heute ist man da schon toleranter, zumindest einige. Und außerdem...“ jetzt war er mit seinem Gesicht ganz nah an dem seines Freundes, „freut mich das sogar. Ich habe mich nämlich in dich verliebt...“
Noch bevor Vincent den Satz fertig gesprochen hatte neigte Nathanael sich nach vorne und küsste ihn auf die Lippen. „Ich liebe dich auch, sehr sogar“.
Jetzt legte der Grufti einen Arm um die Hüfte seines Geliebten. Mit der anderen Hand wuschelte er ihm durch seine zerzausten Haare. Lange Zeit genossen die Beiden diese innige Umarmung.
Erst das Klingeln von Vincents Mobiltelephon unterbrach die Zärtlichkeiten.
Sein Onkel schien hörbar besorgt zu sein, da er ihn nirgends finden konnte. Vorsichtig versuchte sein Neffe ihm zu erklären, dass er am vorherigen Abend bei einem Freund zu Besuch gewesen sei und dann übernachtet habe und dabei wohl vergaß anzurufen. Doch statt der erwarteten Schimpfereien erntete Vincent nur ein freundliches „nächstes mal sagst du bitte Bescheid.“
Fasziniert starrte Nathanael das Nokia an. „Das also ist eins dieser modernen Mobiltelephone?“
„Nun ja, eigentlich ist das sogar ein sehr altes Model, aber es reicht mir vollkommen damit telephonieren zu können.
Langsam bemerkten die beiden Jungen, dass sie doch müde waren und es draußen schon längst hell geworden war, und so legten sie sich schlafen.

Teil 2
Als Vincent erwachte spürte er etwas schweres auf seinem Arm. Plötzlich errötete der Junge. Nathanael musste sich zu ihm ins Bett geschlichen und fest an ihn gekuschelt haben. Jetzt hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Die wunderschönen meerblauen Augen seines Geliebten waren auf die Seinen gerichtet und ein zutiefst glückliches Lächeln grinste ihn an.
„Guten 'Morgen' Vincent. Endlich bist du wach.“
Doch der Grufti seufzte nur „du bist so unglaublich süß und gutaussehend“. Dann zog er seinen Freund noch näher an sich heran und Küsste ihn.
Nach einer Weile verliebten Kuschelns flüsterte Nathanael Vincent ins Ohr: „Vielleicht sollten wir langsam aufstehen, du hast bestimmt schon einen großen Hunger!“
„Den habe ich definitiv, meine letzte Mahlzeit war am Montag Abend, und inzwischen ist schon Mittwoch...Morgen? Oder doch schon Mittag?“
„Es ist sogar schon Nachmittag, geliebter Vincent. Zumindest wenn die Standuhr richtig geht. Ich hole schnell etwas Geld und dann können wir in ein gutes Restaurant gehen“, mit diesen Worten holte Nathanael aus einer Schatulle im Kleiderschrank mehrere Hundert Reichsmark.
„Es tut mir leid,“ sprach der Grufti mit sichtlich besorgter Miene, „Aber Reichsmark werden leider nicht mehr akzeptiert. Inzwischen gibt es eine europaweite Währung, den Euro. Du könntest höchstens einen Teil davon an einen Sammler veräußern. Aber nicht alles, solche Antiquitäten muss man sammeln“
Betrübt blickt der Untote zu Boden. „Wie gern hätte ich dich in ein gehobenes Restaurant eingeladen. Jetzt musst du mir das Geld dafür leider leihen.“
„Nein, Nathanael, wenn, dann gebe ich dir das Essen mit Freude aus. Ich liebe dich doch, da musst du mir nichts zurück zahlen. Außerdem habe auch ich kein geringes Erbe, zudem ich noch Waisenrente bekomme. Du musst weder Schuldgefühle deswegen haben, noch dich sonst wie schlecht fühlen. Es ist für mich so schön dir etwas schenken zu können. Du hattest ja das Selbe aus bestimmt den selben Motiven vor. Wenn, dann müsste es mir leid tun, dir dieses Vergnügen weggenommen zu haben.“
Diese lange Rechtfertigung brachte Nathanael zum Lachen: „Wenn du unbedingt zahlen möchtest, so lasse ich mich gerne von dir einladen. Ich müsste eh passen, wenn ich in dieser Zeit ein Restaurant suchen sollte. Aber in deinen zerknitterten Klamotten kannst du unmöglich Essen gehen. Ich führe dich nach dem Zimmer meines Vaters, er war von schlanker Statur, so müssten dir seine Sachen passen.“
Nachdem der Junge aus den 20ern seinen Freund abgesetzt hatte zog er sich selbst um.
„Der Nadelstreifenanzug und das schwarze Hemd passen echt gut zu dir, verehrtester Vincent. Elegant und trotzdem noch immer düster. Und es passt wunderbar zu deiner hohen Frisur und der Schminke“
„Danke für das Kompliment. Du siehst in deinem Anzug aber auch zum Anbeißen aus, mein Engel“. Mit diesen Worten zog der Grufti seinen Freund an sich und küsste ihn leidenschaftlich. Hernach begaben sie sich auf den Weg zu einem französischen Restaurant.
In dem Restaurant bestellte Vincent beiden das Tagesmenü, bestehend aus einer Trüffel-Suppe als Vorspeise, einem Kalbsmedaillon an Rosmarinkartoffeln mit einer Weinsauce und zum Nachtisch eine Käseplatte. Dazu bestellte er noch heimlich eine Flasche Champagner. Als dieser serviert wurde, stieß das junge Pärchen an. „Darauf, dass ich den tollsten Jungen der Welt kennen lernen durfte. Jemand, mit dem ich die Schönheit der Dunkelheit teilen, mit dem ich mein Leben teilen kann. Darauf, dass wir auf ewig zusammen bleiben und unsere Liebe nicht vergeht, und sollten unsere Körper bereits zu Staub zerfallen sein! Ich liebe dich Nathanael“
„Darauf, dass ich mit dem Mann meiner Träume, dem wunderbarsten der Wunderbaren ein neues Leben anfangen kann. Ich liebe dich auch, Vincent!“
Nachdem die Teller des Hauptganges weggeräumt wurden, griff Vincent nach der Hand seines Geliebten. Dieser blickte sich sichtlich nervös um.
„Ist es in Ordnung, hier, in aller Öffentlichkeit? Da uns doch jeder sehen kann?“
„In der heutigen Zeit ist es an einem Ort wie diesem eigentlich relativ sicher, mach dir keine Sorgen, mon coer“
Nach dem Essen brachte Vincent Nathanael nach hause, gab ihm einen Kuss und begab sich zurück zu seinem Onkel. Dieser grüßte ungewohnt freundlich: „Guten Abend. Wie ich höre, warst du heute schon wieder nicht in der Schule? Ich hab dich jetzt noch entschuldigt, weil du endlich mal Freunde hast. Aber ob jemand der die Schule schwänzt der richtige Umgang für dich ist?“
„Frank. Er schwänzt nicht, er hatte die Tage einfach nur keinen Unterricht. Außerdem ist er ganz harmlos und nett. Aber seit wann machst du dir Sorgen um mich?“
„Schon die ganze Zeit. Hör zu. Es tut mir leid, dass ich so ein Arsch zu dir bin. Aber... seit dem Tod deines Vaters, meines Bruders bin ich innerlich am Arsch. Ich kann damit einfach nicht umgehen. Ich sauf, um mich besser zu fühlen. Davon geh ich nur noch mehr kaputt. Das alles macht mich zu einen jähzornigen Monster, ich bin nicht mehr ich selbst. Ich kann das, was ich dir angetan hab leider nicht mehr gutmachen. Vergib mir.“, schluchzte Onkel Frank.
„Es hat mich wirklich verletzt, das gebe ich zu. Vor allem die Beleidigungen gegenüber meiner Persönlichkeit und wer ich bin.“
„Ich... verstehe das alles nicht, aber eigentlich will ich das gar nicht verurteilen. Aber bei deinen Eltern habe ich schon damals in der Schule gesehen, wie scheiße die anderen zu ihnen waren, weil sie einen ungewöhnlichen Stil hatten. Ich will halt nicht, dass dir sowas passiert. Du hattest ja keine Freunde...“
„Vor dem Schulwechsel hatte ich ja noch Freunde, obwohl ich damals auch nicht wirklich 'normal' war. Aber mach dir keine Sorgen, ich halte das schon aus, ich habe jetzt ja jemanden, der mich Stützt. Wenn ich dir vergeben soll, dann solltest du mich auch unterstützen. Bevor du das nächste Mal zur Flasche greifst, solltest du vielleicht mit jemanden reden. Ich würde schon zuhören. Und es gibt ja auch noch andere Menschen, die dir das anbieten. Agnes hat dir und mir angeboten, mit ihr einen Kaffee oder Tee zu trinken und zu reden, als sie mitbekommen hat, was passiert ist. Wieso fragst du sie nicht das nächste Mal, wenn du auf den Markt gehst?“

Die nächsten Tage hatte Vincent das Gefühl, dass die Mitschüler weniger unfreundlich ihm gegenüber wären. Nicht, dass sie ihn respektvoll behandeln würden, aber außer der Ausgrenzung hatte er nur von den Schülern aus den anderen Klassen dumme Sprüche auf dem Schulhof zu hören bekommen. Sie eigene Klasse hielt sich damit zurück. Und Vincent konnte sich den Grund schon denken: Der Haupttäter, Daniel und sein Speichellecker Niklas waren nicht da.
Seit der Tat auf dem Friedhof waren die Beiden wie vom Erdboden verschwunden. Der Initiator und Anführer des Mobbings war vielleicht verschwunden, nicht aber seine Saat in den Köpfen der Anderen. Dazu kommt noch die allgemeine Intoleranz in der Köpfen der Jugend. Zwar gibt es inzwischen viele, die sich für Gutes einsetzen, doch ist das leider nur ein kleiner Bruchteil.
Nach der Schule wurde Vincent von Onkel Frank freundlich empfangen. Er erlaubte seinem Neffen sogar die Best-Of Depeche Mode beim Essen laufen zu lassen.
Kaum waren sie mit dem Essen fertig, schon machte sich der Junge auf den Weg zu seinem Freund.
Vincent betrachtete das Anwesen der Familie Wagner zum ersten Mal bei Tageslicht. Viele Fenster hatten zersplitterte Scheiben und ein Schornstein schien in sich zusammen gebrochen zu sein. Der neogotische Bau war fest von Efeu umschlungen und im Garten wucherten Dornen. Der verrostete Zaun war an einigen Stellen durchbrochen und auch die Skulpturen waren schief und krumm.
Einzig die Wasserspeier und Kreuze am Gebäude schienen komplett von der Vergänglichkeit verschont geblieben zu sein.
Fasziniert schritt Vincent durch das quietschende Tor über die Reste des Pflastersteinweges. An dem großen Portal betätigte er den Türklopfer. Theatralisch öffnete Nathanael beide Flügel der Tür.
„Da bist du ja!“, sprach der Untote freudig, „Ich habe schon sehnsüchtigst auf dich gewartet, mein Schatz. Die beiden Tage ohne dich kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Doch war ich in dieser Zeit nicht untätig, so habe ich die Zeit genutzt um einige Angelegenheiten zu regeln. Um mein Geld brauchst du dir keine Sorgen zu machen, ich habe einen Teil des Goldes aus dem Familientresor versetzt und somit eine recht große Summe an Geld besorgt. Der Bankier war sichtlich verdutzt, als ich ihn nach dem Wechselkurs in alter Reichsmark fragte. Er musste lange an diesem...Kompjuta... tippen, bis er endlich meine Frage beantworten konnte.
Die Tasten dieses Gerätes erinnern mich an eine komplexere Schreibmaschine, doch kann dieses Gerät so viel mehr. Die heutige Zeit ist wahrlich faszinierend!“
„Irgendwann muss ich dir auch noch beibringen, wie man einen Computer benutzt... Dabei bin ich nicht unbedingt der Beste darin. Solange du keine Arbeit hast, solltest du mit deinem Geld sparsam umgehen.“, gibt Vincent zu bedenken, „Und wie sieht es eigentlich mit dem Besitzanspruch auf diese Immobilie aus? Als nächster Verwandter deiner Eltern würde dir dieses Anwesen zwar zustehen, zumindest wenn es bis zu deren Tod ihnen gehört hat, aber wie willst du beweisen, dass du tatsächlich der rechtmäßige Erbe bist? Nachdem du für tot erklärt wurdest wird entweder ein entfernter Verwandter oder aber der Staat der neue Eigentümer sein. So oder so, es hat sich niemand mehr um diese Villa gekümmert.“
„Dieser Angelegenheit habe ich mich bereits schon angenommen. Im Schreibtisch meines Vaters fand ich einen Durchschlag des Testaments. Ein sehr besonderes Testament, dass tatsächlich aber noch gültig war, trotz der vielen Gesetzesänderungen und der Landesgeschichte. Es gab wohl noch einige Nebenverträge und Zusicherungen von hohen Politikern, Anwälten und Notaren. Die Beziehungen meiner Eltern scheinen sich auszuzahlen. Laut des Testamentes habe jeder Mensch auf dieses Anwesen Anspruch, der im selben Alter wie ihr verstorbener Sohn zum Todeszeitpunkt ist, wenn er ein paar Aufgaben lösen kann. Der schwerste Teil war der Erwerb eines gültigen Ausweisdokuments, da von mir keine glaubwürdigen Dokumente existieren. Aber irgendwie habe ich das geregelt bekommen, gut, bei meinem Alter mag ich gelogen haben, damit ich als volljährig gelte, dann musste ich dem Notar nur noch ein paar einfache Fragen bezüglich des Lieblingsbuches, Autoren und Komponisten des Sohnes der Familie Wagner beantworten, auf dem Flügel die neunte Nocturne Chopins fehlerfrei vorspielen und einen geheimen Raum im Anwesen finden, den nicht einmal der Notar kennen durfte. All das war für mich recht einfach.“
„Deine Eltern scheinen deine Rückkehr in das Reich der Lebenden vorausgeahnt zu haben. Das ist so faszinierend!“
„Damit könntest du sogar Recht haben, geliebter Vincent. Früher fand ich den Familienbrauch zu Silvester von einer Wahrsagerin die Zukunft voraussagen zu lassen lächerlich, aber wenn ich von den Toten auferstehen kann, dann ist Hellseherei gar nicht mal so abwegig. Die Firma aber haben meine Eltern leider schon einige Jahre vor ihrem Tod Verkauft. Den Erlös daraus wie auch das restliche Vermögen sollte nach ihrem Tod sofort in Gold investiert werden, welches fest im Tresor verschlossen für den Erben bereit gelegt werden sollte. Es scheint so, dass sie sogar von den Währungsreformen wussten. Und ich sage dir, Vincent, von dem Geld in dem Tresor wird man sehr lange gut leben können. Sehr gut. Zur Konservierung meines Wohlstandes werde ich mir zwar eine Arbeit suchen, aber fürs Erste reicht es, wenn es nur eine kleine Tätigkeit ist. Mir würde etwas musisches sehr liegen. Doch reden wir nicht von den unwichtigen materiellen Dingen. Mein wichtigster Besitz, etwas gänzlich immaterielles, das ist unsere Beziehung. Und für deine Liebe, Zuneigung und dein freundliches Wesen möchte ich mich herzlichst bedanken!“. Trotz dieser formellen Worte rannte Nathanael ungehalten auf Vincent zu und sprang in seine Arme. Nachdem er seinen Freund fast zerdrückt hatte küsste er ihn dutzende Male auf alle erdenklichen Stellen seines Gesichtes bevor er ihm einen dreizehnten Kuss auf die Lippen drückte. Dann erst lies Nathanael Vincent durch das Foyer über die große Treppe in den Salon gehen. Erst als der Grufti saß lies der Junge ihn los. Dann hockte er sich im Schneidersitz neben ihn auf das Canapé. Mit erwartungsvollen Augen starrte der brünette Junge seinen Grufti-Freund an.
„Du bist so unglaublich süß, dass ich verrückt werde!“, seufzt Vincent während er seinem Geliebten durch die Haare wuschelt, „Also gut. Ich habe dir ein paar Tonträger und einen CD-Player dabei. Ich denke wir fangen ganz am Anfang an“, Während der Gruft sprach drückte er auf einen Knopf des Geräts und Jefferson Airplane's 'White Rabbit' ertönte. „In den 60ern gab es die Hippie Bewegung. Das waren junge Menschen, die sich gegen den Krieg der USA wehrten und Liebe und Friede als Ideale lebten. Sie wurden von der restlichen Gesellschaft ausgeschlossen und verachtet. Optisch ähnelten sie den typischen Jesus-Bildern, nur mit Blumenkränzen oder Stirnbändern anstelle der Dornenkrone. Oft trugen sie zur bunten Tunika nach unten hin weite Hosen. Ihre Musik bestand hauptsächlich aus Psychedelic- und Progressive Rock. Rock Musik basiert auf dem Blues-Schema und wird mit verzerrten, elektrisch verstärkten Gitarren gespielt. Ein paar Bands und Lieder hatten einen hypnotischen Klang, wie eben dieses Lied.“
Gemeinsam lauschten die beiden Jungen den Klängen des Liedes.
„Und dann gab es Titel, die nicht nur hypnotisch, sondern auch düster waren,“ fuhr Vincent fort, während The Velvet Underground & Nico's 'Venus in Furrs' spielte, „diese Lieder bilden die Grundlage für Post-Punk und Gothic-Rock. Das erste als Gothic-Rock betitelte Lied war 'The End' von den Doors, welches wir hören werden, sobald dieses Lied fertig ist. Noch war die Musik aber vom richtigen Gothic-Rock entfernt. Ein anderer Musiker, den man hier einordnen kann war David Bowie.“
Nach 'The End' spielte Bowie's 'Space Oddity'.
Vincent zog eine 'Worst of Punk' CD hervor. Als er die Silberscheibe aus der Hülle nahm, meinte Nathanael, eine kleine Schellack-Platte darin zu erkennen. Kurzum erläuterte Vincent, dass bei diesem Medium die Tonspuren mithilfe von gebündeltem Licht, sogenannten 'Laser-Strahlen' gelesen werden würden. Als er diese CD eingelegt hatte, lief 'Pet Semetary'.
„Von der naiven, passiven und friedlichen Attitüde der Hippies hatten die Punks in den 70ern die Schnauze voll. Punk war ebenfalls eine anti-kapitalistische, anti-autoritäre und anti-establishment Bewegung. Doch war ihre Art nicht mehr friedlich und passiv, sie waren aggressiv gegen das System und die gleichgeschaltene Gesellschaft.“, während Vincent mit seinen Ausführungen fortfuhr spielte das nächste Lied, 'God Save The Queen' von den Sex Pistols, „Ihre Musik war nicht mehr komplex und hypnotisch wie die der Hippies, sie war laut, wütend, einfach und zum Teil ziemlich unmusikalisch. Die meisten Texte spiegelten ihre Ideale und Forderungen wieder, sie kritisierte das System. Optisch sind die Punks recht extrem. Neben zerfetzten Kleidern mit vielen Sicherheitsnadeln und Schottenkaros war die Kleidung mit vielen spitzen Nieten, wie bei mir, und Lederjacken, Lederarmbänder und Hundehalsbändern geprägt. Auf dem Kopf trugen sie Irokesen- oder Mohawk-Haarschnitte. So ähnlich wie die Uhreinwohner Amerikas, aber oft in grellen bunten Farben. Im Gegensatz zu den Hippies findet man heutzutage noch ein paar Punks. Ich könnte dir mal einen vorstellen.“
Wieder wechselte Vincent den Tonträger. 'Radio-Activity' von Kraftwerk ertönte. „Nun kommen wir zur elektrischen Musik, Synth-Pop, Wave und New Romantic.“
„Das also ist elektrische Musik! Faszinierend! Ein gänzlich neues Klangbild, auch hier höre ich hypnotische Musik, und doch unterscheidet es sich von dieser Psychedelic-Musik. Mir konveniert es definitiv!“
„Das freut mich“, meinte Vincent, „Ich selbst liebe diese Musik. Neben Gothic sind diese Richtungen meine Favoriten! Kraftwerk gelten als Vorreiter des Synth-Pops und Waves, ich würde sogar sagen, dass sie die erste Dark-Wave Band waren. Schon in den 70gern war ihre Musik stark elektronisch. Und sie sind noch immer aktiv, wenngleich sie leider keine neuen Alben herausgebracht haben. Auch andere Bands wie Visage schlossen sich an und spielten Synth-Pop. Dass Lied, dass wir jetzt hören nennt sich 'Fade to Grey', ein Klassiker, denn man auch heute noch auf echten Gothic-Parties hört! Visage wird der New Romantic Bewegung zugeordnet. Typisch New Romantic war ein Stil, der meinem ähnlich sah, gemischt mit alten Porzellan-Pierrot-Clownspuppen. Die Szene ist fast ganz ausgestorben, die einen gingen zur Gothic-Szene, die Anderen zum Pop. Und dann gab es auch noch poppigere, harmlosere Bands wie zum Beispiel 'Duran Duran'. Von denen werden wir gleich 'Planet Earth' hören. Auch optisch waren diese nicht mehr so extrem, das androgyne aber blieb.“
Nach den New Romantic-Klassikern steckte Vincent ein handbeschriebenes Mixtape in das Kassetten-Fach. Die düsteren Klänge des 'Kyoto-Songs' von the Cure erfüllten den Raum.
„Das erste Genre, dass zu den Gothic-Genre gehört ist Post-Punk. Wobei wohl nicht jedes Post-Punk Lied zur Gothic-Musik gehört. Das ist etwas schwer zu erklären. Das Genre entstand ende der 70er. Hier hören wir gerade 'the Cure', eine der ersten Post-Punk Bands. Neben Post-Punk haben sie auch etliche andere Genre bedient. Ähnlich verhält es sich mit der Band, die wir als nächstes hören werden, 'Siouxsie and the Banshees'. Der Szene-Hits, den wir hören werden, ist 'Spellbound'. Die dritte der bekanntesten drei Post-Punk Bands der Anfangszeit sind 'Joy-Division'. Ihren Klassiker 'Love Will Tear Us Apart' kennt man sogar heute noch im Mainstream. Leider gab es die Band nur bis zum Ende der 70er, da deren Sänger, Ian Curtis, sich erhängt hatte. Danach machten die restlichen Bandmitglieder unter dem Namen 'New Order' Synth-Pop.“
„Diese Musik klingt wie eine Mischung aus dem Psychedelig-Zeug und Panck, aber im Hintergrund ist auch etwas von diesem Sünf-Pop zu hören. Ein sehr ungewöhnlicher, doch ebenso schöner Klang. Ich verstehe, wieso du diese Musik hörst!“, rief Nathanael begeistert.
„Mit noch mehr Verzerrung, düsteren Elementen und experimentellen Tönen entwickelte sich Anfang der 80er dann der echte Gothic-Rock“, fuhr Vincent fort, „die Band 'Bauhaus' zählt mit ihrem Titel 'Bela Lugosi's Dead', den wir gerade hören, als Begründer des Genres. Auch wenn, wie bereits erwähnt, The Doors 'The End' Gothic-Rock genannt wurde, war dieses Lied noch kein echter Gothic-Rock. Erst mit Bauhaus existierte dieses Genre. Oftmals kann man nicht genau unterscheiden, ob es sich noch um Post-Punk oder schon um Gothic-Rock handelt, wie es bei Bauhaus 'She's in Parties' oder den ersten Alben der Gothic-Rock Band 'Sisters of Mercy' der Fall ist. Das spätere Album hingegen waren mehr 'normaler' Rock.
Ein weiteres Genre, das in den USA parallel zum britischen Gothic-Rock entstanden ist, ist der 'Death-Rock'.“

„Wie du hörst, ist das Post-Punk mit mehr von den schnellen und harten Klängen des Punk-Rocks. Das Lied, dass wir jetzt hören, ist 'Christian Deaths' 'Romeo's Distress'. Die nächsten Beispiele sind 'Sex Gang Children' mit 'Sebastiane' und 45 Bats mit 'Riboflavin'. Daneben gibt es noch Cold-Wave, Aethereal-Wave und co. Als Cold-Wave bezeichnet man die französische Variante des Dark Waves, Aethereal Wave... das sind Bands wie 'Cocteau Twins'. So genau kann ich das gar nicht beschreiben... Kommst du noch mit?“
Nathanael nickte.
Wieder wechselte Vincent den Tonträger. 'Welle:Erdball'
„Nun kommen wir zu den Genre, die zwar keine Szene-Genre mehr sind, aber in der Szene gehört werden und auch Einflüsse der Szene-Musik haben. Fangen wir mit Minimal Electro an. Elektrische Musik, die stark von Kraftwerk beeinflusst ist. Im Gegensatz zum Synth-Pop ist hier meist neben dem Gesang nur der Synthesizer, das elektrisch klingende Instrument, dass du hörst, im Vordergrund. Das Lied ist 'Deutsche Liebe' von Welle:Erdball. Manchmal kommen noch E-Drums, ein elektrisches Schlagzeug, dazu. Dass war es meist aber auch. Oft auch mit nur wenigen Tonspuren, daher heißt das Genre ja auch 'Minimal' Electro. Dann gibt es noch Synth-Wave, etwas aggressiverer Synth-Pop. Bands fallen mir dazu ehrlich gesagt keine ein. Viel beschäftigt habe ich mich mit dem Genre nicht, obwohl ich es nicht schlecht finde. Nur findet man da nicht unbedingt CDs oder so.
Ein wenig nach instrumentalem Post-Punk mit Folk-Einflüssen. Es ist an sich ein angenehmes Genre, aber die Hauptzielgruppe des Genres sind Neo-Nazis. Viele bekannte Bands kokettieren mit den Rechten, romantisieren den Nationalsozialismus oder spielen mit deren Symbolik. Auch grenzen sich die Meisten nicht von dem braunen Dreck ab. Eine der wenigen Bands, die ich ohne schlechtem Gewissen empfehlen kann, ist 'Ordo Rosarius Equilibrio'. Nur sind deren Texte auch ein wenig speziell, nicht weil sie politisch oder so sind, aber es geht meistens um sexuellen und romantischen BDSM, also Bondage, Unterwerfung und Sadismus & Masochismus. Das gerade laufende Lied 'A Song 4 Hate & Devotion' zum Beispiel hätte einen eindeutigen Text in der Richtung. Wie du merkst, sind die meisten Lieder auf englischer Sprache, wie sieht es eigentlich mit deinen Englischkenntnissen aus?“
„Da die Firma meiner Eltern auch internationale Kontakte hatte, kam ich in den Genuss in dieser Sprache gebildet zu werden, ein Privileg, welches zu meiner Zeit nicht jedem zuteil wurde. Da die Welt aber wohl internationaler wurde, und einige Lieder auf Englisch sind, nehme ich an, dass inzwischen jeder Englisch lernt?“
„Korrekt, Nathanael. Deswegen sind auch die meisten Genre-Namen international. Was uns zum nächsten Genre bringt: Industrial. Ein Genre, dessen Name inzwischen viel missbraucht wird. Aber Industrial ist eigentlich ein Genre, dass auf experimenteller, avantgardistischer Musik basiert, die Industriegeräuschen nachempfunden wurde. Daher ist die Musik oft stampfend. Der Gesang hat oft etwas von Punk. Ein gutes deutsches Beispiel ist die Band 'Einstürzende Neubauten'. Das nächste Lied auf der CD wird 'Zerstörte Zelle' von denen sein. Beinahe von Anfang an gab es Bands, die Elemente des Post-Punks beinhalteten. Ein bekannter Grenzfall ist 'Alien Sex Fiend'. Die Fusion von Industrial und elektrischer Musik ergab Electronic Body Music, kurz EBM. Hier empfehle ich ' Der Räuber und der Prinz ' von 'DAF'. Ähnlich wie Industrial wurde auch der Begriff EBM für fast alle elektrische Musik der schwarzen Szene benutzt, worauf ich später zu sprechen komme. Auf jeden Fall sind diese Genre Gothic Nah, und werden von vielen Gruftis, gehört.
Bevor wir fortfahren würde ich dich gern um eine Tasse Tee bitten.“
„Darauf habe ich gewartet“, grinste Nathanael. Flugs gab er seinem Freund einen Kuss auf die Wange, dann zog er ihn in die Küche. Die Küche war sehr groß und wunderschön anzusehen: Schachbrettkacheln, Schränke und Herd waren von weißer Emaille mit kupfernen Handläufen und Füßen, der Gasherd selbst gusseisern und die Arbeitsflächen Marmor. Und alles frisch poliert.
„Das war vielleicht eine Arbeit, alles hier perfekt herzurichten, aber eine Küche muss nun mal sauber sein. Zum Glück waren die Leitungen noch angeschlossen, deswegen haben wir auch wieder fließend Wasser und Gas. Nur der Strom dauert noch etwas. Aber bei Kerzenlicht ist es eh viel romantischer!“
Als der Herr des Hauses den Ofen öffnete breitete sich der Duft von Keksen vor den beiden Jungen aus. Nathanael platze fast vor Grinsen. „Ich habe extra für dich die Birnen-Haferplätzchen meiner Mutter gebacken. Die Zutaten habe ich ganz frisch auf dem Markt gefunden. Dazu gibt es einen kräftigen [Teesorte]. Ich hoffe, dass die Plätzchen so gut schmecken, wie ich sie in Erinnerung habe!“
Und fürwahr, das Süßgebäck mundete dem jungen Paar gar vorzüglich.
Zurück auf dem Canapé lehnte Nathanael sich an Vincents Brust. Dieser hatte zuvor eine 'Nightwish' CD eingelegt.
„Diese CD bedeutet mir sehr viel, auch wenn sie keine Gothic-CD ist. Es ist der einzige Metal-Tonträger meines Vaters, der den Brand überstanden hat. Um genau zu sein handelt es sich um Symphonic-Metal. Damit du es verstehst, muss ich dir erst einmal kurz erklären, was Metal überhaupt ist. Es ist eine zumeist härtere und schnellere Spielart des Rocks, die sich von dem Bluesschema losgelöst hat. Genaueres kann ich dir leider nicht sagen, da es nicht mein Genre ist. Aber 'Nemo', dass Lied das gerade läuft, liebe ich! Und Symphonic-Metal kombiniert Metal mit komplexer klassischer Musik, wodurch ein epischer, meist düsterer Klang entsteht. Und obwohl auch das düstere Rockmusik ist, klingt es ganz anders als Gothic-Musik. Wie du siehst gibt es also auch noch andere Musik, deren Klang und Zielpublikum eher düster ist. Diese Subkultur nennt man 'Schwarze Szene'. Genau genommen entstand die schwarze Szene durch Bands, die sowohl bei Goths als auch Industrial Fans beliebt waren, eben weil diese Bands beide Genre bedienten. So wie vorhin erwähnte Alien Sex Fiend, aber auch die EBM-Gruppe 'Cabaret Voltaire'. Nun gab es also zwei Subkulturen, die düstere Musik hörten und sich zusammen taten. Ein neuer Begriff musste also her. 'Schwarze Szene'. In den 90ern dann entstand mit Symphonic-Metal ein Genre, dass sich vom normalen Metal unterschied, die Zielgruppe entsprach auch nicht dem Metal-Publikum, auch optisch waren die Fans eher düster. Daneben gab es noch ''Industrial'-Metal' das sind Künstler wie 'Rob Zombie' oder 'Marilyn Manson', ein weiteres, eher düsteres Metal-Genre. Wirkliches Industrial ist es nicht, aber es hat den stampfenden Rhythmus übernommen. Sehr schnell entwickelte sich daraus die deutsche Variante, Neue Deutsche Härte, kurz NDH. Der berühmteste Vertreter des Genres ist 'Rammstein'. All diese düsteren Gestalten suchten eine eigene Subkultur, und mit der eh schon gemischten schwarzen Szene fanden sie ihr Sammelbecken. Dazu kam dann noch düstere Pseudo-Mittelalter Musik, Folk mit mittelalterlich anmutenden Texten, so wie von 'Subway to Sally' oder 'Heilung', düster-melancholischer Rock wie von 'Lord of the Lost' und vieles mehr. Sobald ich mit dir mal zum Plattenladen komme, kann ich dir diese Musik vorspielen, ich selbst habe nichts in der Richtung.
Aber auch fremdartige Musik, die keinerlei Bezug zur Gothic- oder Schwarzen Szene hat, ist inzwischen als Schwarze Szene Musik etabliert, wie Aggrotech. Das Zeug klingt wie das normale Disco Techno-Pop-House-Wie-Auch-Immer-Gedöns, nur eben mit Geschrei. Furchtbare 'Musik'. Und die Fans nennen es dann noch EBM, Industrial oder schlimmer noch 'Gothic'.
Es ist ja schon so ärgerlich, dass unwissende, auch innerhalb der schwarzen Szene, alles, was mit der schwarzen Szene, aber nicht der Gothic Szene zu tun hat, als 'Gothic' betiteln. Nein, auch Raver nennen sich jetzt 'Goth'“, angewidert schüttelte sich Vincent.
Nach seinem Monolog lauschte der Grufti noch eine Weile der Musik während er seinem Freund die Brust kraulte. Nachdem die CD dann durch war, verabschiedete er sich mit einem Kuss und begab sich auf den Heimweg.
Eine halbe Stunde später klingelte es erneut bei Nathanael. Er schlich zu einem Fenster um zu schauen, wer vor der Tür stand. Es war Vincent. Dieser stützte eine weitere Person. Sofort riss der Herr des Hauses die Tür auf und winkte die Beiden hinein.
„Danke, geliebter Nathanael. Das hier ist Paul, ein guter Bekannter von mir. Er ist obdachlos und absolut ausgehungert. Als er in sich zusammen gesackt auf dem kalten Boden saß fragte ich ihn, was ihm fehle und er meinte, er habe seit Tagen gar nichts mehr gegessen und nun sei er ohne jegliche Kraft. Darf ich ihn bei dir aufwärmen während ich etwas zu Essen kaufe?“
„Nein,“ entgegnete Nathanael ernst, „Das geht nicht. Er braucht sofort etwas zu speisen und ein Getränk. Geh du mit ihm in die Bibliothek an den Kamin, ich bringe ihm mein Abendessen und die Karaffe mit dem Citronen-Minz Wasser.“
„Danke! Ich danke dir unendlich!“
Behutsam schleppte Vincent den Punk an den Ofen. Dann schob er ihm ein Samtkissen unter den Kopf. Nur wenige Sekunden später betrat Nathanael mit einem Teller Entenbrust die Bibliothek. Ganz langsam führte er dem Fremden die Gabel zum Mund. Wie ein wildes Tier schlang Paul dass Essen herunter.
Als der Punk wieder bei Kräften war bedankte er sich bei Nathanael: „Danke! Ich dacht schon, dass ich verhungern muss! Ohne Vinny un dich wär ich bestimmt gestorben! Jetz geh ich aber wieder, bevor ich euch noch mehr Arbeit mach. Wenn ich mal wieder ne Mark hab, dann bezahl ich dir das Essen!“
„Du bleibst hier!“, ermahnte Nathanael, „Erst musst du dich wieder erholen! Und wo willst du denn bitte hingehen? Wie ich von Vincent erfahren habe lebst du auf der Straße! Nachts ist es viel zu kalt. Nein, du nimmst jetzt erst mal ein Bad. Dann bekommst du etwas ordentliches zum Anziehen. Wir richten dir solange ein Bett her, in dem kannst du schlafen.“
„Danke, aber das is viel zu viel.“
„Mir ist es extrem wichtig den Bedürftigen zu helfen. Und außerdem bist du ein Freund von Vincent. Allein damit hast du dir eine warme Unterkunft verdient.“
Jetzt erst realisierte Paul, wo er überhaupt ist, „Hey, Vinny, woher kennst du denn diesen Bonzen? Er scheint wohl genug zu haben, da kann er ruhig was abgeben.“
„Das ist nicht irgendein Bonze!“, entgegnete der Grufti, „Das ist mein geliebter Nathanael. Ein Junge mit einem reinen Herzen, der mir geholfen hat, als es mir am schlimmsten ging, der mir die Lebensfreude wieder gebracht hatte. Er mag zwar reich sein, aber das Geld hat er nicht auf asoziale Art verdient, wie es die Kapitalisten machen. Vielmehr war es sein Erbe. Damit möchte er das Andenken seiner verstorbenen Familie pflegen und ein unbeschwertes Leben führen. Nachdem, was er alles durchmachen musste, hatte er es auch verdient. Und wie ich ihn kenne, wird er seine Privilegien für diejenigen einsetzen, denen es nicht so gut geht. Wegen dieser gutmütigen und selbstlosen Art habe ich mich in ihn verliebt. Er hat sich sogar mal für mich geopfert und wurde abgestochen. Wie durch ein Wunder hat er überlebt. Bitte betitle ihn nie wieder als Bonzen.“
„Wenn du ihn liebst und er wirklich so gut is, dann tut's mir leid. Ich wollt deinen Freund nich beleidigen. Unter den Reichen gibt’s also wirklich noch ein paar gute!“
Mit einem Leuchter führte Nathanael seinen Gast in das Badezimmer. Dann richtete er ihm einen Seidenschlafanzug und ein gemütliches Bett hin. Vincent wusch derweil Pauls Kleidung in einem Bottich.
Nathanael gesellte sich zu ihm in die Waschküche. „Jetzt aber solltest du wirklich nach Hause gehen, liebster Vincent! Sonst macht sich dein Onkel Sorgen um dich. Ich werde den Zustand deines Freundes heute Nacht im Auge behalten, keine Sorge!“
„Wenn das so ist, rufe ich Frank an. Ich überlasse dir ganz sicher nicht allein die ganze Arbeit. Und es kann unglaublich langweilig sein über einen schlafenden zu wachen. Wenn ich jedoch bei dir bin, hast du wenigstens jemanden, der sich leise mit dir unterhalten könnte!“
Nathanael wusste, dass er seinen Geliebten nicht davon überzeugen konnte zu gehen. Also lies er ihn telephonieren und setzte noch eine Kanne Tee auf.
Paul war inzwischen mit dem Bad fertig und begab sich in das ihm zugeteilte Schlafzimmer. Kaputt wie er war schlief er noch im Bademantel auf dem Bett ein. Auf einem Sofa in der Nähe kuschelten sich Vincent und Nathanael für ihre Nachtwache gemeinsam unter eine Wolldecke.
Die ersten drei Stunden wachte Nathanael, dann wachten beide und die letzten drei Stunden wachte Vincent.
Am nächsten Morgen sahen die beiden Jungen, dass es Paul beim Aufstehen schon besser ging. Nathanael meinte, er solle noch etwas zu Essen aus der Küche holen. Kaum hatte der Punk das Haus verlassen, schliefen die Beiden Arm in Arm ein.
„Wir haben schon wieder den halben Tag verschlafen“, murmelte Nathanael während er sich den Schlaf aus den Augen reibt. Dann drückt er seinen Geliebten noch einmal an sich und gibt ihm einen leidenschaftlichen Kuss. Geschwind richtete er sich dann wieder auf und wirbelte durch das Haus, richtete sich und ein gutes Frühstück und zerrte Vincent zu Tisch.
„Du bist so voller Energie und Lebensfreude, dass ist so süß!“, jauchzte Vincent seinem Freund zu.
„Na ja, dass ist nur, weil ich momentan so glücklich bin.“, grinst Nathanael, „Ich habe einen unglaublich tollen Geliebten, lebe jetzt in einer toleranteren Zeit und ich konnte einem Bedürftigen helfen! Aber oft bin ich einfach nur niedergeschlagen, kaputt und nicht fähig irgendwas zu tun.“
„Das kenne ich, vor allem seit dem Tod meiner Eltern. Aber du hast mich aus der Trauer geholt und jetzt bin ich wieder glücklich!“
„Ich habe dir ja auch das Leben gerettet, Vincent. Und nicht nur dir, auch deinem Freund. Und ich würde ihm gerne weiterhin helfen. Könntest du ihn bitte überzeugen, hier einzuziehen? Er muss es nicht als Almosen sehen, so könnte er hier den Haushalt übernehmen, falls es ihm dann eher angemessen erschiene.“
Und tatsächlich, mit der Voraussicht mit einem Wohnsitz mal eine richtige Anstellung bekommen zu können und dann auch den Lebensunterhalt mit zu stemmen willigte Paul ein. Nicht jedoch ohne sich darüber zetern, dass sowas eigentlich Aufgabe eines Staates wäre und der Kapitalismus das Leben unmöglich mache.
Unter den linken Punks gehört Paul inzwischen eher zu dem gemäßigteren, weniger utopischen Spektrum. Der Kapitalismus gehöre zwar zerstört, aber eine funktionierende Wirtschaft ist für eine stabile Gesellschaft leider notwendig. Dennoch müsse es dem Staat vordergründig um das soziale gehen. Wahre Sozialdemokratie eben, eine echte soziale Marktwirtschaft. Nicht das, was SPD und Deutschland als solches verkauft. Und auch die Umwelt müsse vor dem Markt stehen. Erst wenn es jedem Menschen und Tier gut geht dürfe man Gewinn machen.
Am nächsten Wochenende war Agnes bei Frank zum Kaffee eingeladen. Auch Vincent sollte dabei sein. „Du kannst auch dein Herzblatt mitbringen,“ meinte er, „Ich war auch mal jung, wenn du so oft bei diesem Nathanael bist und immer strahlst, wenn du von ihm redest, da war mir schnell klar, dass da was läuft. Dass er ein Typ ist, ist schon ok.“ Ob Onkel Frank dem gegenüber recht tolerant war, weil er sich vorgenommen hatte, ein besserer Onkel zu sein, oder ob er nur so tat konnte Vincent nicht einschätzen. Aber solange Frank sich benehmen würde wäre es dem Jungen egal.
Nathanael brachte eine Ananas-Torte, Agnes Scones mit ihrer selbstgemachten Kirsch-Konfitüre.
Das Gespräch drehte sich erst um Backkunst, dann kam der Tod von Vincents Eltern zur Sprache. Aufmerksam hörte Agnes Frank zu. Selbstverständlich zog das Gespräch Vincent herunter. Nathanael konnte das nicht ertragen und nahm seinen Freund in den Arm.
„Ihr Beide seid so knuffig!“, kommentierte Agnes, „Aber reden wir nicht mehr über das unschöne Thema, den tragischen Tod deiner Eltern bespreche ich mal ausführlicher mit Frank wenn wir allein sind.“, dabei warf sie Vincents Onkel einen verstohlenen Blick zu.
Den restlichen Nachmittag redete die Gesellschaft über angenehmere Themen wie Theater, den Wochenmarkt und das aktuelle Geschehen in der Stadt.
Am nachfolgenden Montag erwartete Vincent ein Tumult, nachdem er in der Pause von der Toilette zurück kehrte.
„Da ist er ja!“, rief ein Schüler. Ein anderer Schüler aus einer höheren Klassenstufe zerrte den Grufti unsanft zu einer Gruppe von Schülern. „Das da ist Neith.“ meinte der ältere Schüler und zeigte auf eine schwarz gekleidete, südländische junge Dame, „Ihr werdet euch bestimmt gut verstehen.“
„Neith,“ korrigierte sie ihn. „Und eigentlich bin ich nicht freiwillig hier, ihr habt mich genötigt. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass E-boys keine Goths sind?“
Dann drehte sie sich zu Vincent um. „Oh! Du bist tatsächlich ein Goth, ein echter Trad-Goth sogar. Ich bin Neith und neu in dieser Stadt. Die anderen wollten unbedingt, dass ich dich kennen lerne und ja. Die wollen uns bestimmt verkuppeln, Goths findet man heutzutage nicht überall.“
„Ähm... Hallo. Ich bin Vincent. Ja, ich bin ein Trad-Goth, wobei genau genommen Goth und Gothic nur die klassischen Gothic-Genre beinhaltet, der Rest ist eher Schwarze Szene. Wenn man die Genre vergleicht, ergibt das Durchaus Sinn, aber die Gemeinsamkeiten auf den anderen Ebenen sind einfach zu groß, als dass es mich wirklich stören würde, wenn Andere die schwarze Szene als Gothic betiteln. Solange es kein Aggrotech ist.“
„Goth bewahre! Ich höre sicher kein Aggrotech.“, entgegnete Neith, „Aber ich mag sowohl die klassischen Gothic-Sachen als auch den schwarze Szene-Kram gleichermaßen. Hauptsache düster-melancholisch und mystisch! Sogar Dark-Pop wie Billie Eilish und Lana del Rey höre ich gerne mal. Gibt es hier in der Gegend eigentlich irgendwas? Es muss ja kein Gothic-Club sein, aber zumindest einen Rocker-Schuppen oder so?“
„Meine Eltern waren früher mal in einer Rock- und Metal-Kneipe. Wie die hieß und ob es die überhaupt noch gibt weiß ich leider gar nicht. Ich bevorzuge zwar echte Gothic, Wave und New Romantic-Musik, aber auch Klassik, Schwarze Szene-Musik und Rock im allgemeinen höre ich gerne mal.“
„Das ist wirklich cool! Magst du auch so düsteres Zeug wie Vampirfilme, Tim Burton und so?“
„Ja,“ lachte Vincent, „was das angeht, bin ich total stereotyp. Aber mit den billigen Klischees wie Satanismus, Grabschändung und so einem Dreck habe ich nichts am Hut.“
„Das freut mich. Ich liebe auch diese Werke. Selbst 'Twilight' und 'Die Schule der kleinen Vampire habe ich früher als Kind geschaut. Inzwischen finde ich Twilight sehr kitschig, langweilig und schlecht gespielt. Ich meine, warum sollte ein sterblicher Außenseiter mit einem untoten Schönling zusammen kommen?“, sprudelte es aus Neith heraus.
„Ja total unrealistisch!“, antwortete Vincent etwas abwesend, in Gedanken an Nathanael.
„Ich hoffe wir sehen uns mal wieder, ich muss jetzt zurück in meine Klasse!“

Nach der Schule eilte Vincent zu Nathanael. Kaum war der Grufti durch die Tür des Anwesens geschritten stieg ihm der Duft eines köstlichen Bratens in die Nase. Stolz grinsend rannte Nathanael ihm entgegen. „Da du Montags früher aus der Schule kommst, musste ich dir einfach eine kleine Leckerei zaubern!“
„Das ist so süß von dir, heißgeliebter Schatz!“, sprach Vincent während er seinen Freund in die Arme schloss und einen Kuss auf die Wange gab. Dann öffnete er ihm die Schürze und streifte sie ab.
„Hallo Vinny!“, rief Paul. Vincent war wirklich froh, dass Paul bei Nathanael wohnte, denn so wurde aus einem Bekannten ein sehr guter Freund, aber seitdem er eingezogen ist, hatten Nathanael und Vincent einfach keine Gelegenheit mehr für romantische Zweisamkeit, obwohl der Grufti jeden Tag nach der Schule bei seinem Freund war.
Gemeinsam aßen die Drei den Rinderbraten mit Rotkraut und Kartoffelknödeln. Während des Essens erzählte Vincent von seiner neuen Bekanntschaft und der Hoffnung, eine neue Freundin in ihr finden zu können.
„Habt ihr schon die neuesten Nachrichten mitbekommen``?“, fragte Paul, „Es soll jemand in die Kirche beim Friedhof eingebrochen zu sein. Fast alles wurde geklaut, nur eine Figur von Jesus wurde nich mitgenommen, statdessen hatte jemand der Figur 'ne weiße Perücke mit Rauschebart aufgesetzt und ein T-Shirt mit der Aufschrift 'Ich bin Gott' angezogen. Daneben standen wohl noch ein Buddha, eine Hindu-Götterstatue und eine Mjölnir-Kette.“
„Paul du bist wirklich nicht auf dem neuesten Stand. Das war kurz bevor ich Nathanael kennen gelernt habe, vor ungefähr drei Wochen. Gruselig was manche Menschen so tun.“
„Es schlagen immer zwei Herzen in einem Menschen: Das Gute und das Böse. Und fast jeder kann das Böse in sich unterdrücken oder steuern, so dass es zum Schaden derer ist, die es auch verdient haben. Nicht wenige finden sogar Erfüllung in dem Guten und Nächstenliebe. Ein Ideal, dass auch ich versuche zu verfolgen, wenngleich ich nicht weiß, wie ich es besser umsetzen kann.“
„Du machst es toll, du sollst dich bloß nicht zu sehr zwingen! Du darfst auch Glücklich sein ohne die Welt gerettet zu haben. Aber verliere das Gute trotzdem nie aus den Augen!“, versucht Vincent seinen Freund zu trösten.
Nach dem Essen schauten die Jungen sich noch den Film 'Return of the living Dead' an. Während des Films nutzten Nathanael und Vincent die Zeit um ein wenig miteinander kuscheln zu können.

An den nächsten Schultagen unterhielten sich Vincent und Neith in den meisten Pausen. In der Zwischenzeit hatte diese herausgefunden, dass es die Rock-Kneipe noch gab und wo sie lag.
Für Samstag Abend hatten sich die Beiden dort verabredet. Vincent sollte ruhig seine Freunde mitbringen.

„Wenn ich morgen schon mit dir in eine 'alternative Bar', wie du es nennst, mitgehe, dann will ich auch etwas passendes anziehen!“, meint Nathanael, „Nicht, dass ich keine Lust hätte, dorthin mitzugehen, aber ich will nicht negativ auffallen.“
„Ich werde dir morgen ein paar passende Accessoires und co. mitbringen, diese werde ich auf mein Outfit abstimmen. Ich habe da schon etwas geniales im Kopf“, entgegnet Vincent.
„Das klingt wunderbar!“, rief Nathanael begeistert, „Ein schwarzes Hemd und einen Schwarzen Anzug mit schwarzen Samtstreifen habe ich auf jeden Fall im Schrank. Den werde ich mir anziehen!“

Sobald Vincent zuhause angekommen war, suchte er zusammen, was er finden konnte und bastelte noch an ein paar Kleinigkeiten.

Den nächsten Tag begannen die beiden Verliebten mit einem Spaziergang über den Friedhof. Einige Bäume trugen bereits herrlich bunt verfärbte Blätter und spiegelten so die melancholische Schönheit des Sterbens wieder.
Nachdem sie die Gräber ihrer Vorfahren gepflegt hatten, begaben sich die Beiden wieder auf den Heimweg.
„Du Vincent,“ sprach Nathanael besorgt zu seinem Freund, „ich muss dir etwas gestehen. Schon seit einer Ewigkeit, seit meiner Kindheit, bin ich von einer tiefen Leere und Schwermut befallen. Angefangen hatte das alles, als ich bemerkt habe, dass ich mich nur für Jungs interessiere. Zuerst kam der Selbsthass, weil ich damals noch glaubte, dass es falsch ist Schwul zu sein. Ich dachte ich sei ein schlechter Mensch, unmoralisch, verdorben und gegen Gottes Willen. Nachdem ich dass alles endlich halbwegs verarbeitet – oder unterdrückt – hatte, kam das nächste, womögliche noch schlimmere Problem: ich musste mein wahres Ich vor allen verstecken, um Ablehnung zu vermeiden und den guten Ruf meiner Familie zu bewahren. Nicht einmal meinen Eltern hatte ich davon verraten. So blieb ich bis zu meinem Tod einsam und musste mich verstellen. Seit ich dich kenne, war es zwar viel besser, aber sobald du weg warst, kamen wieder die Selbstzweifel, dieses mal Quälten mich noch weitere böse Gedanken: ob ich dir gerecht werde, wie lange es mit uns wohl halten wird und wie viel Diskriminierung wir wohl erfahren dürfen. Und auch die Leere kommt immer dann, wenn ich allein bin.“
„Scheiße!“, fluchte Vincent, während er seinen Schatz in den Arm schloss, „das klingt nach ernsthaften Depressionen. Du solltest zu einem Psychologen gehen. Keine Angst, du bist deswegen nicht weniger Wert oder so, inzwischen wissen wir, dass fast 20% der Deutschen echte Depressionen hat oder hatte. Psychische Erkrankungen werden auch nicht mehr so abschätzig gesehen. Es ist ganz normal.“
Nachdem Vincent Nathanael getröstet hatte gingen sie noch in ein Café, dass Eischai anbot. Ein Getränk, dass einem Eiskaffee oder -schokolade ähnelte, allerdings auf Grundlage eines Masala Chais. Am Nachmittag schien es Nathanael wieder besser zu gehen. Er schickte Vincent schon einmal vor zum Wagner-Anwesen, da er noch etwas zu erledigen habe.

Vincent nutzte die Zeit um schon mal alles an Kleidung und Accessoires vorzubereiten. Auch wenn sie nur in eine Rock-Kneipe ausgingen, so war es doch endlich mal eine Gelegenheit sich im düster-alternativen Stil so richtig herauszuputzen. So zog er seine enge Lederhose, sein modifiziertes Netzstrumpfhosen-Unterhemd und sein Lebanon Hanover Tanktop an. Die Arme zierten einige Nietenarmbänder, die Finger verschiedene Ringe, unter anderem ein Totenschädel, ein Kreuz und eine Fledermaus.
Gerade rechtzeitig, als der junge Grufti mit dem Anziehen fertig war, betrat Nathanael das Anwesen.
„Du warst ja doch länger weg, ich hatte mir schon Sorgen um dich gemacht!“, rief Vincent in das Foyer.
„Tut mir leid. Der Friseur hatte mich dazu überredet, meine Haare nachhaltiger zu Frisieren.“
Neugierig ging Vincent aus dem Raum und auf seinen Freund zu. „Du hast ja eine Dauerwelle! Das steht dir wirklich gut! Du siehst damit zum Anbeißen aus!“
„Danke, geliebter Vincent! Von dir bedeutet mir dieses Kompliment besonders viel. Aber du siehst mit der engen Hose und dem Netzhemd auch ungemein erotisch aus!“
„D...Danke!“, stotterte Vincent knallrot, „eigentlich sollte das gar nicht so aufreizend sein, eher klassisch-gruftig. Aber wenn es dir auf diese Art gefällt, freut es mich noch mehr!“
Nathanael stürmte auf seinen Geliebten zu und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Dann öffnete er seine Lippen ein Stück weit und erlaubte Vincent so mit der Zunge in seinen Mund einzudringen. Wild und leidenschaftlich rangen die Zungen des Pärchens miteinander. Dabei hielten sich die Jungs an der Hüfte.
Als sie den Kuss gelöst hatten, gingen sie in das Ankleidezimmer. Nathanael bekam von Vincent eine Kette mit mehreren Ankh-Anhängern an die Taschenuhr, für die Krawatte eine Totenkopf-Nadel und eine große Fledermaus-Halskette, die Selbe, die auch Vincent selbst trug. Auch ein Duplikat seines Fledermausringes steckte er streifte er seinem Freund über die Finger. Der Rest der Hand war von Netzstulpen bedeckt.

Währenddessen bereitete Paul das Abendessen vor: Selbstgemachte Pizza mit Schwarzwälder Schinken, Salami, Peperoni, Mais und viel Mozzarella und Cheddar. Da er keine Hefe zur Hand hatte, hat der Punk eine Dose 5,0 zur Hand genommen, was der Pizza ein noch einzigartigeres Aroma verlieh.

Nach dem gemeinsamen Essen trugen Paul und Vincent ihre Styling- und Schmink-Kosmetika zusammen.
Paul formte sich einen klassischen Irokesen während Vincent seine Haare wild hochtoupierte. Nathanael hingegen musste seine Haare nur kurz wieder in Form bringen.
Als die Haare saßen, machte Vincent sich daran sein Gesicht sehr blass zu grundieren, welches er mit dünnen Schicht Babypuder bepinselte. Dann machte er das selbe bei seinem Geliebten. Die Lippen schminkte er den beiden dunkelrot, fast schwarz. Dazu noch lila-schwarze Smokey-Eyes mit besonders dicken und langen Eyeliner, dessen Form sich auch in den Augenbrauen widerspiegelt.
Damit der Partnerlook perfekt war, bekam Nathanael noch ein paar Pikes (spitze Schnallenstiefeletten) mit Fledermausschnallen aus Samt, während Vincents ledern waren.

'Schrei nach Liebe' von den Ärzten drang durch die Tür des Lokals. An einem Tisch wartete Neith schon mit ihrer Schwester auf die Gruppe.
„Guten Abend, werte Damen. Dass hier sind Nathanael und Paul.“
„Guten Abend auch an die Herren! Meine Schwester hier heißt Aida“, antwortete Neith.
Vincent bestellte sich ein Glas Snakebite & Black, ein Gothic-Klassiker bestehend aus einem Lagerbier,Cider und schwarzem-Johannisbeer Sirup. Nathanael tat es ihm gleich. Paul hingegen nahm ein einfaches dunkles Weizen. Neith hatte ein Glas Absinthe und Aida einen Rotwein.
„Du und deine Schwester, ihr habt echt intressante Namen!“ ,meinte Paul.
„Danke, ja unsere Familie kommt aus Ägypten. Keine Angst, wir sind nicht strenggläubig, aber durchaus muslimisch geprägt“, antwortete Neith, „Nicht einmal meine Eltern haben etwas gegen meinen Stil und seht mich an, ich trage nur einen Vokuhilarock mit Vollbrustkorsett und Strapsen im Gothic-Look.“
„Ich habe mit dem ganzen Gothic-Zeugs zwar nicht so viel am Hut, aber ich gehe gern mit meiner Schwester weg, ich habe sie einfach total lieb. Und Gothic passt total zu ihr. Das ist total ihr Ding!“, meinte Aida, „Aber es gibt auch Sachen die wir gemeinsam haben: Wir beide Lieben Musicals, Bollywood, Disney-Filme und Tanzen!“
„Auch ich mag sehr viele Disney-Filme.“,meinte Vincent, „Die von Tim Burton und die düstereren wie 'Taran und der Zauberkessel', 'Maleficent' und die kurzen grusel Cartoons so wie so, aber auch andere wie 'Arielle, die Meerjungfrau' oder 'Küss den Frosch', nicht zuletzt wegen ihrer charmanten und stilvollen Bösewichte und der romantischen Stimmung. Mit Tanzen kenne ich mich leider nicht so aus, ich beherrsche nur den 'Totengräber'. Und Musicals... da gibt es auch einige, die ich liebe. Nicht nur die von Disney.“
„Welche denn?“, fragte Neith.
„Natürlich 'Sweeney Todd' und 'Corpse Bride' von Tim Burton. Und 'Tanz der Vampire' und 'Das Phantom der Oper' liebe ich so wie so. Aber mein absoluter Favorit bleibt Richard O'Brian's 'The Rocky Horror Picture Show'. Die Musik, Handlung, Kostüme und vor allem der Kult der Aufführungen ist einfach legendär!“
„Oh ja, das Stück ist sogar noch besser als 'Moulin Rouge'. Ich habe es schon live gesehen! Und gegen die tolle Filmversion kann man genauso wenig ankommen!“, rief Neith begeistert.
„Ich muss wohl noch sehr viel nachholen, die meisten dieser Werke sind mir gar unbekannt.“, kommentierte Nathanael.
„Das musst du allerdings! Die 'Rocky Horror Picture Show' darfst du aber auf keinen Fall auf dem Fernseher ansehen. Wenn dann als Live-Musical oder als Kino-Event. Das gibt es sogar als Shadow-Cast, dabei wird der Film von Laienschauspielern live vor der Leinwand mitgespielt. Diesen Monat gibt es bestimmt wieder eine Aufführung, zu Halloween ist das immer beliebt. Meine Schwester Neith und ich würden auf jeden Fall wieder kostümiert hingehen!“
Plötzlich dröhnte aus den Lautsprechern 'Temple of Love' von den Sisters of Mercy in der Version mit 'Ofra Haza'. „Ich liebe dieses Lied!“, seufzte Neith. Vincent stimmte ihr zu: „Ich finde die Version sogar besser, als das Original. Klar, diese Version ist weniger Post-Punk-lastig, aber Ofra Hazas Teil wiegt trotzdem mehr!“
„Ich kenne zwar das Original nicht, doch empfinde ich jenes Lied, dass ich momentan höre gar wundervoll!“, fügte Nathanael sich ein.
„Ich finde es schön, dass wir bei Musik so viel gemeinsam haben, obwohl du bis vor kurzem keine moderne Musik kanntest.“, raunt Vincent seinem Freund zu, „dass macht dich noch perfekter!“ Nach diesen Worten küssten sich die Beiden.
„Ach ihr seid ein Paar?!“, schrie Neith. Die halbe Kneipe drehte sich um, ein paar Männer schauten schockiert oder angewidert in Richtung des schwulen Paares. Knallrot entschuldigte sich Neith bei ihnen: „Das tut mir so leid, ich wollte euch nicht bloßstellen. Aber ich hätte nie gedacht, dass ihr zusammen seid!“
„Dabei sieht man es den Beiden sofort an! Der Partnerlook, die verliebten Blicke, die vielen 'beiläufigen' Berührungen... Manchmal bist du echt blind! So ein tolles Paar sieht man selten!“, lachte Aida ihre Schwester aus.
„Jetzt merk ichs auch!“, gab Neith zu, „aber ich hätte Vincent niemals für schwul gehalten!“

Nach einigen feuchtfröhlichen Stunden ging die Gruppe nach Hause. Zuerst brachten sie Neith und Aida zu ihrer Wohnung bevor sie in den Bus nachhause einstiegen. Paul war noch damit beschäftigt mit dem Busfahrer über das Ticket und das Recht auf Freie Beförderung diskutieren, als die beiden Düster-Alternativen von einer Gruppe Jugendlicher dumm angemacht wurden:
„Ritzi Ritzi Aua Aua,
gib mir deine Emo Power.“
„Haltet die Fresse oder ich werd sie euch polieren!“, drohte der Paul den Halbstarken, die sich daraufhin auf die hinteren Plätze verzogen.
„Danke. Ich hasse diese dummen Jugendlichen, die nicht einmal den offensichtlichen Unterschied zwischen den fast ausgestorbenen Emos und uns Gruftis kennen.“
Nach Minuten angespannter Stille verließ die Gruppe um Vincent den Bus am Friedhof.
Kaum hatten sie sich dem Tor genähert hörten sie wieder die Jugendlichen lästern. Doch dieses mal waren auch Niklas und Daniel und ein paar weitere, sehr aggressiv aussehende Typen mit dabei.
„Vielleicht müssn wir das ganze Blut von dem Penner ablassen“, kichert Daniel, „Dann verreckt er endlich und wir können Satan rufen, wallah! Es fehlt uns nur noch des Gebot 'Du solsch nich töten', dann haben wir alle Gebote gebrochen!“
„Ich dacht du wolltst dich bei Vincent entschulidigen, Junge.“, rief Niklas entsetzt, „Dein try die toten zu beschwören hat schon nix gebracht, und du glaubst noch immer an so einen okkulten shit. Die Kirche zu zerstören hat noch fun gemacht, aber Mord und so geh'n zu weit. Letztes mal nachdem ich weggerannt bin meintste noch, dass du nur ne Fake-Klinge hattest.“
„Bist du wirklich so leichtgläubig, Bro? Du dachtst wohl auch Frau Müller hätt freiwillig mit mir gefickt? Ich hab se erpresst, dass sie ihren Mann mit mir betrügt, da ich se sonst wegen Vergewaltigung von Schülern und so anzeigen würde, obwohl se nix gemacht hat. Schüler bekommen da immer recht meinte ich zu der Schlampe.“
„Du gehst viel zu weit, Dani-Bro! Ich ruf die Polizei!“
„Yo Niklas, denk nur an all die Bitches und den Fame den Satan uns geben wird“

„Jetzt wird mir so einiges klar. Ihr Idioten habt euch mit dunklen Mächten eingelassen und mich damit zurück aus dem Reich der Toten geholt.“ lachte Nathanael selbstbewusst, „Aber eine Sache habt ihr vergessen: Der Preis für das Leben ist der Tod. Da in den Archiven der Zeitung nichts über einen Mord in den letzten Tagen gelesen habe, war euch dieser Teil des schrecklichen Rituals wohl unbekannt. Und wie ich die Gesetze der Unterwelt kenne, lässt sich der Tod nicht betrügen. Da ich meinen geliebten Vincent nicht allein zurücklassen möchte, muss wohl einer von euch meinen Platz im Totenreich einnehmen. Da du bereust, Niklas wähle ich Daniel. Deine Sünden gegen Gott und den Menschen wiegen schwer und so werde ich die Menschheit von dir befreien.“ Mit diesen Worten schritt der untote Junge auf seinen Feind zu. Als dieser fliehen wollte, hielt Niklas ihn fest.
„Entschuldige dich einfach bei den Freaks und verpiss dich, ich will dich nie wieder sehn!“, flüsterte Niklas Daniel zu. Dieser riss ein Messer aus der Tasche und stach auf seinen ehemaligen Freund ein, bis er ihn losließ. Doch für Daniel war es zu spät. Nathanael hatte bereits seine Hand auf die Stirn des Verbrechers gelegt. Panisch floh der Halbstarke nach dieser Berührung. Kurz bevor er das rettende Tor erreichen konnte, stolperte Daniel über eine Wurzel und flog mit dem Auge voraus auf den spitzen Zierrat des Friedhofzauns. Unter schmerzen hauchte er sein Leben aus. Der Krankenwagen, den Niklas gerufen hatte, kam zu spät. Trotz des Todes seines Freundes sagte er bei der Polizei zu Gunsten Nathanaels aus.

Auf der Stirn des Toten fand die Polizei ein eingebranntes Kreuz.

Epilog:
Nach dem schrecklichen Unfall auf dem Friedhof hatte der Notfallseelsorger Nathanael direkt einen Psychotherapeuten empfohlen, der ihm bei der Bewältigung seiner Traumata und Vergangenheit behilflich war und somit die Depressionen weitestgehend besiegt.
Wie Vincent später von seinem Nathanael erfuhr, hatte dieser seitdem er wieder zuhause ist jedes Buch über Mythologie, jeden okkulten Ratgeber und jedes Grimoire im Besitz seiner Familie und der örtlichen Bibliotheken gewälzt und so herausgefunden, wie er zu neuem Leben gekommen ist.
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Kommentare (4)
  • Da es Probleme mit dem Link zu geben scheint: https://youtube.com/playlist?list=PLS7hcy2X9kz__PLQBezpqXtOuKjN7_CEX

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  • Echt gute geschichte, gibt's ne Fortsetzung?

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  • Danke! Hast du auch meine anderen Geschichten (Video Games) gelesen? Falls ja, hätte ich dir was ;)

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  • Danke! Hast du auch meine anderen Geschichten (Video Games) gelesen? Falls ja, hätte ich dir was ;)

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